2016 wird ein großes Shakespeare-Jahr: Vor 400 Jahren ist der große englische Dichter gestorben. Man würde ja gern mal was Aktuelleres lesen. Aber aktueller als Shakespeare? Geht kaum.

Stratford-upon-Avon - Ach nö, nicht schon wieder Shakespeare – so die erste spontane Reaktion des Kulturjournalisten bei Durchsicht der großen Künstler-Jahresjubiläen 2016: Franz Marc (100. Todestag), Gregory Peck (100. Geburtstag), Gottfried Wilhelm Leibniz (nicht der Kekserfinder, sondern der große Philosoph; 300. Todestag), Miguel de Cervantes (mit und ohne Windmühlen; 400. Todestag). Und da ist dann auch er: William Shakespeare, englischer Dichter, gestorben am 3. Mai 1616 in Stratford-upon-Avon, also vor 400 Jahren.

 

Dabei war doch gerade erst Shakespeare-Gedenkjahr: 2014, zum 450. Geburtstag! Haben wir nicht da schon alles bedacht und geschrieben? Sind nicht alle Jubelfeiern längst gehalten? Sind nicht alle Anekdoten längst erzählt, alle messerscharfen Klassifizierungen längst erfolgt, alle geistreich-treffenden Formulierungen längst gefallen? Haben uns die Verlage nicht gerade erst mit den wichtigsten Neuerscheinungen versorgt (vor allem mit Neil MacGregors „Shakespeares ruhelose Welt“ und Hans-Dieter Gelferts „William Shakespeare in seiner Zeit“; beide C. H. Beck Verlag)? Kann man das Shakespeare-Gedenken 2016 nicht vielleicht und ausnahmsweise einfach mal überspringen? Zum 500. Geburtstag im Jahr 2064 kämen wir dann an dieser Stelle bestimmt auf ihn zurück, fest versprochen!

Und dann flattert dem Kulturjournalisten just in den letzten Dezembertagen durch Zufall ein Kalenderblatt vor die Nase, und zwar von jener Sorte, bei der Tag für Tag irgendein großes Zitat der Weltgeschichte verzeichnet ist: „Es ist der Könige Fluch, bedient von Sklaven zu sein“ – ach was, ein Shakespeare. Natürlich, ein Shakespeare: von wem sonst kennt man diese Kunst, mit einem einzigen Vers maximal trocken und ohne jede Umwege an Gefühle zu rühren, die den Leser oder Hörer aufmerken lassen, damals, zu seiner Zeit, aber auch 400 Jahre später.

Bei Shakespeare drohen fast immer Mord und Totschlag

Der Satz stammt aus „König Johann“, einem Historienstück von 1596; ganz sicher eines der weniger zentralen Königsdramen, nicht zu vergleichen mit „Richard III.“. Es geht tief zurück ins Mittelalter der englischen Geschichte und verhandelt mit sehr umfangreichem, um nicht zusagen: unübersichtlichem Personal Fragen der rechtmäßigen Thronfolge. Für das Theaterpublikum 1596 ein hochspannendes Thema: Die damals herrschende Königin Elisabeth war bereits weit über siebzig Jahre alt und ohne Kinder, eben „Elizabeth the Virgin Queen“. Die sich abzeichnenden Herrschaftsfragen nach ihrem Tod versprachen dem konfessionell und regional tief gespaltenen Land schwerste Verwerfungen und Parteienkämpfe. Es drohten mal wieder Mord und Totschlag. Da wird das Publikum mit Interesse zugesehen haben, wie nach Meinung des Dichters solche Probleme 500 Jahre zuvor gelöst wurden. Nämlich mit Mord und Totschlag.

Fragen der Herrscherlegitimität sind dagegen für den heutigen Literaturfreund zweifellos von geringem Belang. Auch gehört „König Johann“ ganz sicher nicht zu den besten Dramen Shakespeares. Und trotzdem gelingt es solch einem einzigen Vers, den heutigen Leser geradezu anzuspringen: „Es ist der Könige Fluch, von Sklaven bedient zu sein“. Ja, allerdings.

Weder muss man wissen, wer das zu wem sagt, noch in welchem Zusammenhang. Die Kunst Shakespeares, die eben nicht nur Kraft, sondern erstaunliche Magie hat, liegt genau hier: Das Zitat ist eine völlig nüchtern, höchst emotionslos pointierte Verdichtung der Realität, die uns wie eine Wahrheit von heute vor den Augen steht, weil sie gerade in ihrem demonstrativen Verzicht auf jede Moral eine perfekte Projektionsfläche bietet für eigene Wahrnehmungen und die Zeiterfahrungen heute. Dass die Machthaber dieser Welt sich nicht umgeben mit Menschen, die ihnen ebenbürtig auf gleicher Augenhöhe begegnen, dass sie deshalb deren nichtssagenden Rat ebenso fürchten müssen wie den liebdienerischen oder gar den hinterhältigen, das kann zum Fluch werden für Regierungschefs und Terrorbandenführer, aber auch für Bankvorstände oder Automobilbau-Manager. Zu Steuerungsfragen Output-offener Managementdiskurse kann man sehr teure Wochenendseminare in Schweizer Fünf-Sterne-Plus-Hotels besuchen. Oder man liest eben einfach Shakespeare.

Auch seine Nebenfiguren sind stets eine Wucht

Ein Satz! Er genügt, und schon nimmt man das erneute Dichterjubiläum wieder gern zum Anlass, auf Entdeckungsreise zu gehen. Wenden wir uns also doch wieder dem alten Engländer zu. Vielmehr seinem Werk, diesen round about 38 Stücken, Versdichtungen und 154 Sonetten, deren Qualität und Intensität so frappierend ist, dass es viele Kenner einem einzelnen Autor gar nicht zutrauen, schon gar nicht einem kleinen Grammar-School-Absolventen aus tiefster englischer Renaissance-Provinz (weswegen es ja auch komplexeste Verschwörungstheorien gibt, wo stattdessen die Quelle dieser Dichtung zu finden sei; aber dazu an anderer Stelle mehr; das Jahr 2016 ist ja noch lang).

Es gibt viel, was an diesem Werk fasziniert. Eines davon ist zweifellos der immense Reichtum an Figuren. Da sind die großen Hauptrollen – vielleicht nicht König Johann, aber eben auf jeden Fall Richard III., Hamlet, Macbeth, Shylock, Romeo und Julia, Othello, Julius Cäsar, König Lear, Prospero und und und. Aber was wären diese Theatersonnen ohne all die kleineren Gestirne in ihrer Nähe? Was wäre Richard III. ohne den Herzog von Buckingham? Was Hamlet ohne Rosenkranz und Güldenstern? Was Macbeth ohne die Hexen? Was Prospero ohne Caliban? Was wäre das ganze Theater ohne Puck und Zettel? Ohne Malvolio in seinen gelben Hosen? Ohne den dicken Falstaff? Ohne all die kleinen schlüpfrigen Luftgeister und die alten tiefsinnigen Totengräber? Wer als Schauspieler mit Shakespeare-Stücken berühmt werden möchte, muss ganz sicher nicht nur auf die Hauptrollen spekulieren. Er kann auch mit kleineren Partien reüssieren. Shakespeare war eben nicht der Absolvent eines Dramaturgie-Studienganges. Sondern der Chef einer freien Schauspielertruppe.

Widmen wir uns darum von diesem Montag an in einer neuen StZ-Kolumne den Figuren in Shakespeares Kosmos. „Mannschaft“ mag man dazu nicht sagen, dazu sind im Einzelfall die Genderfaktoren viel zu diffizil. Sagen wir doch einfach: Shakespeares Kompanie. Willkommen im Shakespearejahr 2016! Welcome to Shakespeare’s Company!

Shakespeare’s Company (1): Hamlet

Gleich zum Auftakt unserer neuen Reihe greifen wir in die Vollen: Es tritt auf der berühmte Prinz von Dänemark! Eine Zentralgestalt des Welttheaters! Ist irgendwo an deutschen Bühnen ein wirklich talentierter junger Nachwuchsschauspieler denkbar, der nicht davon träumt, vor seinem 35. Geburtstag mit dieser Rolle betraut zu werden? Um dann getrieben von dunklen Ahnungen und den Einflüsterungen eines Gespenstes der heuchlerischen Mutter und dem machtgeilen Onkel ordentlich nachzustellen und einzuheizen, bis endlich – Ho! Ha! – das schreiende Unrecht offen zum Himmel schreit, dass nämlich der eigene Vater mit Gift vom Thron und in den Tod gestoßen wurde? Dass bei diesem Enthüllungs-Feldzug allerlei Kollateralschäden zu beklagen sind, zum Beispiel eine Wasserleiche, dass fast die ganze Familie irgendwann auf der Bühne verblutet, dass schlussendlich das ganze schöne Dänemark gar vom Norweger Fortinbras erobert und verfrühstückt wird – wenn kratzt es? Hamlet jedenfalls nicht. Er will Wahrheit um jeden Preis – und vergeht. Ach, ein junger Schauspieler muss diese Rolle wollen, um jeden Preis. Sonst wird das nix. Nur mit dieser Einstellung kann er jene Textstelle meistern, die zum allgemeinen Theaterzitat schlechthin geworden ist. Dritter Aufzug, zweite Szene: „Sein oder Nichtsein“ – das ist hier die Stelle, an der man schnell auch mal ein dümmliches Kichern im Publikum erntet, wenn der junge Hamlet auf der Bühne den passenden Ton nicht trifft. Ein guter Shakespeare verlangt echtes Theater.