Der Schriftsteller Tomas (James Franco) fährt ein Kind tot. War das eine Verkettung fataler Umstände oder hat er nicht genügend aufgepasst? Wim Wenders geht es in seinem Film nicht um Anklagen. Er zeigt das Leben mit der Tragödie.

Stuttgart - Ein Mann stapft mit einem kleinen Jungen auf den Schultern einen verschneiten Weg entlang. Das ist kein Vater-Sohn-Idyll, der Mann ist dem Kind gerade zum ersten Mal begegnet. Aber es scheint trotzdem eine zutiefst tröstliche Situation, einer jener Gerade-noch-mal-gutgegangen-Momente, in denen man sich schwört, sein Leben zu ändern.

 

Der Schriftsteller Tomas, den in Wim Wenders neuem Film „Every Thing will be fine“ James Franco spielt, ist eine stille Nebenstraße in der kanadischen Provinz entlanggefahren. Mit ihren Kurven und Hügeln kann man die nicht immer übersichtlich nennen, aber dafür gibt es weit und breit keinen Verkehr. Was Tomas zu spät sieht, weil er im entscheidenden Moment nicht ganz konzentriert fährt, ist der Kinderschlitten, der sich von einem abfallenden Weglein herab nähert. Er steigt in die Bremsen, es kracht trotzdem, und vor dem Auto liegt der Junge, der zwar, hoffentlich nur vor Schreck, nicht sprechen kann, aber sonst heil zu sein scheint. Das hätte ganz anders ausgehen können.

Aspekte eines Dramas

Und so trägt Tomas den Buben nun zu dem Häuslein, das er korrekt für dessen Zuhause hält, läuft durch ein Kalenderbildszenario. Wie immer hier schaut die Kamera von Benoît Debie („Spring Breakers“) geduldig zu, mit einem insistierenden Blick, der uns früh verrät, dass dieser Film seine Figuren nicht über die Dialoge erklären wird, dass er nicht auf das Sagbare vertraut. Hier werden Situationen studiert, werden uns Aspekte eines Dramas gezeigt, aus denen wir schlau werden müssen. Was vor allem auch heißt: hier wird uns nicht vorgekaut, was richtig und falsch sein könnte, was gutes und was schlechtes Planen, Fühlen, Handeln.

Als Tomas am Haus anlangt und klopft, öffnet die Mutter Kate (Charlotte Gainsbourg). Tomas deutet knapp und ruhig, um sie nicht unnötig zu schockieren, an, was beinahe geschehen wäre. Aber Kate hört ihm nicht zu. Sie schaut auf ihren Christopher und dann neben ihn ins Leere, als müsse da noch jemand sein. Und in der halben Sekunde, bevor sie es ausspricht, nach dem zweiten Sohn fragt, wissen wir schockartig Bescheid: solch präzises Timing gelingt Wenders immer wieder.

Für Außenstehende nicht zu fassen

Wenn Kate nun losrennt, den Weg entlang, hin zum fernen Auto, unter dem ein zweites Kind eingeklemmt liegen muss, so still, dass Tomas es nicht einmal wimmern hörte, dann geht die Kamera nicht mit. wird auch nicht umgeschnitten, um besser zu zeigen, wie die verzweifelte Mutter an den Reifen vorbei, unter der Stoßstange hindurch versucht, etwas zu fassen zu bekommen, das sich noch atmend bergen ließe. Die Kamera bleibt bei Tomas, schaut aus der Distanz, wie eine kleine Kate am Auto und in ihrem neuen, schmerzerfüllten Leben ankommt.

Dieses Zurückbleiben der Kamera mahnt nicht, dass wir Pietät wahren sollen, es macht uns klar, dass wir nicht mehr wüssten, wären wir näher dran. Wie es Kate nun gehen muss, ist für Außenstehende nicht zu fassen. Immer wieder haben Wenders und der norwegische Drehbuchautor Bjorn Olaf Johannessen den Mut zu offenbaren, dass sie keine Antworten auf unsere Fragen haben, dass sie ihren Figuren nicht hinter die Stirn schauen können und wollen. In „Every Thing will be fine“ weiß das Kino nur das, was wir in der Realität auch erfahren würden, wie sich Figuren in einer inneren Ausnahmesituation in den Kulissen der Normalität verhalten, wie weit sie sich an Konventionen und Erwartungen anpassen können und wo sie einen Bruch vollziehen.

Erfolg dank Schuld

Tomas wird für den Unfall nicht ins Gefängnis müssen. Das Geschehen lässt ihn nicht los, aber der Schrecken lässt ihn als Schriftsteller reifen. Man könnte den Tatbestand böse so formulieren, dass Tomas vom Tod des Kindes profitiert hat. Jahre später kann der überlebende Bruder Christopher, mittlerweile 17 geworden, das manchmal nur so sehen. Obwohl oder gerade weil er Anziehendes in den Büchern von Tomas spürt. „Every Thing will be fine“ erzählt, wie Kate und Christopher immer wieder mit Tomas zu tun bekommen, der ein nach außen glückliches Leben führt, aufgehoben in Erfolg und Beziehungen.

Einmal, als sich Christopher mit Tomas trifft, will er etwas aus seinem Rucksack holen. Er wühlt herum, und nicht nur wir bekommen die Ahnung, gleich könnte gerade so gut eine Waffe wie ein Blatt Papier zum Vorschein kommen. Vor allem scheint es unmöglich, dass Tomas nicht selbst spürt, was da alles möglich wäre. Aber er bleibt. Er läuft nicht weg, und er geht nicht nach vorne. Wenders hat oft etwas zu plakativ Konzepten von Figuren hinterhergefilmt, aber dieses Mal zeigt er Menschen in ihrer faszinierenden Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit. Und er wählt dafür 3-D-Bilder, die hier ganz anders als die stereoskopischen Bilder des Spektakelkinos, nicht den Raum betonen, den die Figuren beherrschen, sondern den Raum, in dem sie ganz leicht verloren gehen könnten.

Every Thing will be fine. Deutschland, Kanada, Schweden, Norwegen 2015. Regie: Wim Wenders. Mit James Franco, Charlotte Gainsbourg, Rachel McAdams. 119 Minuten. Ab 6 Jahren.