Im Vorjahr stand sie in Wimbledon auf dem Tennis-Thron. Zwölf Monate später ist Angelique Kerber zurück und will beweisen, dass sie ihre Krise überwunden hat. Dabei könnte die Auslosung kaum schwerer sein.

London - Als Angelique Kerber am 14. Juli 2018 auf dem Centre Court in Wimbledon auf den Rasen sinkt, hat die Kielerin deutsche Sportgeschichte geschrieben. Als erste deutsche Tennisspielerin seit Steffi Graf 1996 gewinnt sie auf dem heiligen Rasen von London. Die Gräfin selbst gratulierte ihrer Nachfolgerin, deren Gegnerin niemand geringeres als die große Serena Williams war, die sich ihrerseits angeschickt hatte, als junge Mutter Sportgeschichte zu schreiben.

 

Knapp 12 Monate später ist Kerber zurück an der Stätte ihres bislang größten Triumphes. An der Church Road, im Südwesten der britischen Hauptstadt, sitzt sie vor den Journalisten und lächelt in die Kamera: „Es ist ein tolles Gefühl, wieder hier zu sein.“ An sich nichts besonderes. Schließlich sind fast alle Tennisprofis gerne im „All England Lawn Tennis Club“. Aber für die Kielerin scheint es tatsächlich ein Gefühl, wie „nach Hause“ zu kommen. London, beziehungsweise die Rasencourts geben ihr ein Gefühl der Sicherheit, das sie seit ihrem großen Triumph im Vorjahr nur selten erlebt hatte. „Hier fühlt man eine völlig andere Energie. Der Druck ist höher, die Nerven sind gespannter. Das ist das Turnier, bei dem du deine beste Leistung zeigen willst.“ Sie scheint bereit, für die neuen Kieler Wochen an der Church Road.

Schwierige Sandplatzsaison

Danach sah es lange nicht aus: Zwischen ihrem großen Triumph im Vorjahr und dem Start in die unmittelbare Wimbledon-Vorbereitung auf Mallorca vor 14 Tagen stand sie in gerade einmal einem Endspiel. In Indian Wells, auf Hartcourt, im März diesen Jahres. Ein turbulentes Jahr liege hinter ihr, sagt die 31-Jährige und hofft, das schwierigste hinter sich gelassen zu haben. Auf der Ferieninsel stand sie vor zwei Wochen im Halbfinale, in Eastburne erreichte sie gar das Endspiel – trotz der klaren Finalniederlage gegen Karolina Pliskova lief der Start in die Rasensaison vielversprechend.

Vergessen scheinen das Erstrundenaus bei den French Open, die quälenden Probleme mit dem Sprunggelenk im Frühjahr und die leisen Selbstzweifel, die bei der Kielerin immer mitschwingen, wenn sie eines ihrer Formtiefe durchleben muss. „Ich fühle mich gut, ich habe viele gute Matches gegen gute Gegnerinnen gespielt. Es ist wichtig für mich, dieses Selbstvertrauen zu haben“, sagt Kerber.

Schüttler und die Suche nach dem Konzept

Alles gut also? Seit der überraschenden Trennung von Erfolgscoach Wim Fissette im Oktober des vergangenen Jahres sucht die einstige Nummer eins der Welt nach ihrer Topform und insbesondere ihrer Konstanz. Schien die Form gefunden, machte ihr der Körper einen Strich durch die Rechnung. Auch ihr Coach Rainer Schüttler, der nach der Fissette-Trennung übernahm, suchte bislang erfolglos nach dem Konzept, das Kerber wieder nach ganz oben führt.

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Die jüngsten Rasen-Erfolge lassen die Titelverteidigerin wieder in den Londoner Favoritenkreis aufrücken. Dass ihr flaches Konterspiel für den Rasen prädestiniert ist, weiß auch Barbara Rittner, Frauentennis-Chefin beim Deutschen Tennis-Bund: „Kerber und Rasen, das ist so eine Einheit. Alle vermeintlichen Schwächen von ihr werden auf Gras neutralisiert.“ Daher ist für Rittner klar, dass ihr einstiger Fedcup-Schützling „den Titel in Wimbledon verteidigt.“

Schwere Auslosung

Die Auslosung hätte schwerer kaum sein können. Zwar scheint ihr Auftaktlos am Dienstag gegen Landsfrau Tatjana Maria machbar – bis zum Viertelfinale dürfte sie allerdings in Maria Sharapova, Serena Williams und der neuen Weltranglistenersten und French-Open-Siegerin Ashleigh Barty auf die absolute Weltklasse im Frauenzirkus treffen. „Was jetzt zählt, ist die erste Runde. Was in der zweiten, dritten, vierten passiert, ist nicht wichtig“, sagt Kerber dazu. Fokus auf die nächste Aufgabe, Störfaktoren ausblenden. Immer, wenn ihr das gelang, war Kerber am stärksten. Entsprechend zollt sie ihrer Auftaktgegnerin und Fedcup-Kollegin Maria Respekt: „Ich erwarte kein einfaches Match, da Tatjana auf Rasen gut spielt.“

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Ihr „großes Ziel“ formuliert sie dennoch klar: „Ich will meinen Titel verteidigen.“ Auch wenn sie weiß, dass das Feld im Frauentennis ausgeglichen ist: „Es sind viele Junge dazugekommen, die bei den letzten Grand Slams gute Leistungen gezeigt haben.“ Eine These, die sich auch in Zahlen belegen lässt: Bei den vergangenen zehn Grand-Slam-Turnieren gab es neun verschiedene Siegerinnen. Einzig Naomi Osaka, die 21-jährige Tennissensation aus Japan, konnte zwei Grand-Slam-Turniere gewinnen.

„Ich weiß, wie man auf Rasen spielt“

Dass Kerber ihren insgesamt vierten Grand-Slam-Titel gewinnen will, daran lässt sie keinen Zweifel. Dass sie die dafür notwendige Lockerheit an der Church Road wiedergefunden hat, verrät ihr leicht ironischer Kommentar zur zurückliegenden Sandplatzsaison: „Ich weiß, wie man auf Rasen spielt. Das ist ein bisschen anders als auf Sand, wo ich keine Ahnung habe, wie man darauf spielt.“