Wird Winnetou aus den Regalen in die ewigen Jagdgründe des Rassismus-Verdachts gewiesen? Buchhändlerinnen und Bibliothekarinnen aus dem Kreis Esslingen sagen Nein.

Aus den Regalen der Esslinger Stadtbücherei sind die Karl-May-Bände verschwunden. Nicht wegen vorauseilender politischer Korrektheit, erst recht nicht wegen hinterhereilender Reaktion auf eine merkwürdige Debatte. Sondern mangels Nachfrage. „Karl May wird kaum noch ausgeliehen“, sagt die Büchereileiterin Gudrun Fuchs. „Auf Wunsch holen wir die Bände aus dem Magazin.“ Dasselbe gelte auch für die Stadtbücherei Kirchheim, bestätigt Leiterin Carola Abraham.

 

Entwarnung für Karl-May-Fans

Entwarnung also für Fans des alten Flunkerers und Hochstaplers, den manche für eine literarische Größe, andere für einen Rassisten, wieder andere für einen Anti-Rassisten und einige für alles gleichzeitig halten: Man findet seine Werke in den Büchereikatalogen, man kann sie ausleihen – und dabei wird es bleiben, versichert Gudrun Fuchs. „Die Bücher bleiben im Bestand, sonst müssten wir auch ,Jim Knopf’ oder ,Pippi Langstrumpf’ rausschmeißen“ – beides Kinderklassiker, denen rassistische Klischees, Projektionen und Aneignungen vorgehalten wurden. Grundsätzlich sei es zwar zu begrüßen, dass man „sensibler auf Texte reagiert, die Menschen als verletzend empfinden“, betont Fuchs ebenso wie die Esslinger „Provinzbuch“-Inhaberin Ulrike Ehrmann. Doch statt faktischer Leseverbote setzen beide auf Diskussion beziehungsweise Gespräche der Eltern mit ihren Kindern, die erklären, warum sich Ausdrucks- und Sichtweisen seit der Entstehung der Bücher geändert haben.

Kleiner Anlass, große Wirkung

Die sogenannte Winnetou-Affäre nahm Ende August ihren Anfang bei zurückgezogenen Merchandise-Produkten, unter anderem einem Kinderbuch, zum neu angelaufenen Film „Der junge Häuptling Winnetou“. Der Ravensburger Verlag stoppte die Auslieferung dieser Artikel laut eigener Aussage wegen „verharmlosender Klischees“ über die Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner. Damit goss der Verlag erst recht Öl ins Feuer: Obwohl die Produkte den Angaben zufolge nur frei den Texten Karl Mays nachempfunden sind, fiel der Klischeevorwurf prompt auf den Meister selbst zurück. In den Niederlanden nahm Meulenhoff, der größte Verlag des Landes, Mays originale „Winnetou“-Bücher vom Markt und berief sich ausdrücklich auf die Entscheidung des Ravensburger Verlags. Zusätzliches Feuer gab der Debatte die Erinnerung, dass die ARD bereits 2020 beschlossen hatte, keine „Winnetou“-Filme mehr auszustrahlen. Und so ward aus einer belanglosen Aktion – ein Verlag zieht mutmaßlich missglückte Produkte zurück – ein großes Cancel-Culture-Fanal: ein vom ursprünglichen Anlass abgelöstes Exempel, was mit historischer Literatur passieren könnte, wenn strengste moralische, also anti-rassistische und anti-sexistische Maßstäbe von heute an den Wortlaut angelegt würden.

Auf kulturelles Erbe verzichten?

Was dann passiert? „Dann müssen wir auf unser kulturelles Erbe verzichten“, sagt Gudrun Fuchs. Denn kein noch so verehrter Klassiker ist gefeit vor Inkriminierung, Cancel Culture ist prinzipiell uferlos. Was aber ist, wenn solcher Kulturverzicht nicht in Frage kommt, mit den durch Texte oder Textpassagen verletzten Gefühlen? Carola Abraham will keine allgemeinen Empfehlungen geben, sondern den jeweils „individuellen Fall“ bewerten.

„Weg damit!“ führt zu nichts

Fuchs und Buchhändlerin Ehrmann wiederum plädieren dafür, Literatur in ihrem „historischen und sozialen Kontext“ (Ehrmann) zu lesen und zu verstehen – und auch zu kritisieren. Aber „,Weg damit!’ ist keine kritische Aufarbeitung“, sagt Ehrmann. Verbote, ist Fuchs überzeugt, führen „zu keiner Verhaltensänderung bei Rassismus und Sexismus, weil sie nicht die Einstellung der Menschen erreichen.“ Dazu brauche es Aufklärung, die gerade aus dem kulturellen Erbe hervorgehe, wenn auch nicht immer in heutiger Sprache und Denkweise.

„Naive Märchen“, geringe Nachfrage

Texte im Kontext ihrer Zeit sehen – dafür setzt sich auch Cornelie Keller von der Nellinger Buchhandlung Straub ein. Ähnliches Bild wie in den Bibliotheken: „Karl May haben wir nicht mehr im Sortiment, die Nachfrage ist zu gering. Aber wenn jemand die Bücher will, bestellen wir sie gern.“ Für Keller sind die Karl-May-Storys „naive Märchen“, die aktuelle Diskussion hält sie wie Ehrmann für überzogen. Übertrieben ist aus Ehrmanns Sicht allerdings auch die Furcht vor einer mit neuer Macht heraufziehenden Zensur. Inkriminierte Bände aus den Regalen zu nehmen, lehnen beide Buchhändlerinnen ab.

Schweigen zu einer offenkundig brisanten Debatte

Dass Winnetou zumindest im Kreis Esslingen Old Cancelhand trotzen kann, ändert jedoch nichts an der Brisanz der Debatte. Sie zeigt sich in der Tatsache, dass keineswegs jede der befragten Bibliothekarinnen und Buchhändlerinnen bereit war, Position zu beziehen. Bert Heim von der Esslinger Buchhandlung „Die Zeitgenossen“, erklärter Winnetou-Fan seit seiner Jugend, ist da anders. „Wir haben drei junge Kunden, die sind verrückt nach Indianergeschichten. Mit kultureller Aneignung hat das gar nichts zu tun. Nur mit Lesevergnügen“, sagt er. Sein Fazit: „Diese ganze Debatte ist zum Kotzen.“

Cancel Culture

Skandalisierung
 Eine Analyse des Content-Marketing-Spezialisten Scompler hat ergeben, dass nicht die Mitteilung des Ravensburger Verlags, die „Winnetou“-Produkte zurückzuziehen, den Shitstorm entfachte, sondern erst skandalisierende Berichte namentlich in der „Bild“-Zeitung.

Doppeltes Exempel
 So ist der Fall ein doppeltes Exempel: einerseits für Cancel Culture, andererseits für die Frage, ob es diese überhaupt gibt. Einerseits wird Cancel Culture von interessierten Kreisen als Kampfparole gegen angebliche Zensurversuche linker, „woker“ Gruppen ins Feld geführt. Andererseits gibt es etliche Beispiele für Cancel Culture, nicht nur in der Kinder- und Jugendliteratur, auch bei Klassikern. Eine Neuübersetzung von Joseph Conrads Roman „The Nigger of the ,Narcissus’“ etwa verfälschte den Titel zu „Der Niemand von der ,Narcissus’“.