Politiker und Geldgeber mögen es, wenn Wissenschaftler über den Horizont ihres Fachs hinausschauen. Und die Wissenschaftler fügen sich, wenigstens zum Schein, und bitten Kollegen anderer Disziplinen hinzu. Bringt das die Forschung voran?

Stuttgart - Die Einladung hing an einer Waschbetonwand, die für die Universität Bielefeld so typisch ist. In einem Vortrag solle es um „Die soziale Konstruktion des Bewusstseins“ gehen. Damals hat mich das entsetzt. Ich war Doktorand im Fach Philosophie und hatte im Studium gelernt, dass es nichts privateres gibt als das Bewusstsein. Wenn ich zum Beispiel eine Erdbeere esse und, wie immer, feststelle, dass sie mir nicht wirklich schmeckt, dann ist das einfach so. Außer mir kann niemand etwas über mein Empfinden sagen. Was soll daran sozial sein oder gar konstruiert? Eine Freundin aus der Soziologie schimpfte mit mir. „Das müsstest Du doch inzwischen kapiert haben“, sagte sie. „Es geht nicht um das Bewusstsein, sondern darum, wie wir darüber reden.“

 

Den Vortrag habe ich mir geschenkt. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass mir die Zusammenarbeit mit Soziologen und Historikern für meine Dissertation nicht geholfen hat. Es war ein notwendiges Übel, denn das Graduiertenkolleg, das mein Stipendium zahlte, war eben interdisziplinär. Heute sehe ich das zwar anders: als gute Vorbereitung für meinen späteren Job als Journalist, der mich in Kontakt mit allen möglichen Disziplinen bringt. Doch eine grundsätzliche Skepsis ist geblieben: Bringt einen die Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Fächern wirklich weiter?

Eine kleine Umfrage unter ehemaligen Mitarbeitern des damaligen Graduiertenkollegs bestätigt die Skepsis: Die Interdisziplinarität sei keine Tugend und sollte nicht zum Imperativ erhoben werden, wird mir geantwortet. Manchmal helfe sie, wenn es darum gehe, den eigenen Standpunkt zu klären. Und manchmal sei sie nötig, weil die Forschungsfrage die Grenze des eigenen Fachs überschreite. Als Selbstzweck sei die Interdisziplinarität aber verfehlt. Obendrein sei die Verständigung schwierig, nicht nur wegen des unterschiedlichen Fachjargons: Bei Vertretern mancher Fächer verstehe man nicht einmal, was sie wollen. Mit diesem Hinweis ist wohl die Philosophie gemeint. Welches Fach beginnt schon seine Argumente mit den Worten: „Wenn ich eine Erdbeere esse …“?

Die Kluft zwischen den Fachkulturen bleibt tief

Die Philosophen haben es vielleicht auch besonders schwer. Für ihre Mitwirkung an Projekten der Stammzellforschung und der Robotik, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, hat sich die Bezeichnung „Ornamentalistik“ eingeprägt. Aber die Schwierigkeiten beschränken sich nicht auf dieses Fach. Inzwischen ist es mehr als 50 Jahre her, dass der britische Schriftsteller Charles Percy Snow seine Theorie der „zwei Kulturen“ präsentierte. Zu welcher man gehöre, erkenne man daran, ob man Shakespeares Dramen oder die Hauptsätze der Thermodynamik zum allgemeinen Bildungsgut zähle. Nach meinem Eindruck ist die Kluft zwischen den geisteswissenschaftlich und naturwissenschaftlich sozialisierten Menschen weiterhin groß. Man ist doch immer wieder überrascht, was andere Leute alles nicht wissen.

Bessert sich die Lage, wenn man die Geisteswissenschaften außen vor lässt und sich beispielsweise fragt, wie Chemiker mit Physikern klarkommen? Viele meiner Interviewpartner habe ich das schon gefragt, und ihre Antworten fallen immer in eine von diesen beiden Kategorien: (1) die politisch erwünschte Antwort der Art „Interdisziplinarität ist immer gut“ oder (2) die ehrlich wirkende Antwort der Art „Interdisziplinarität ist schlecht für meine Karriere“. Die disziplinäre Defokussierung kann schon innerhalb der Physik zum Problem werden. Um ein Beispiel zu konstruieren: Angenommen man schießt hauptberuflich mit exotischen Teilchen auf bestimmte Atome. Ist man dann Teilchen- oder Atomphysiker? Oder hofft man darauf, dass irgendwann eine Professur für jemanden ausgeschrieben wird, der in beiden Disziplinen zu Hause ist?

(Bisher sind in dieser Serie erschienen: die wissenschaftlichen Tugenden der Skepsis, der Überprüfung und der Risikofreude.)