Eine Mehrheit im Gemeinderat lehnt es ab, auf die Enteignung des Energiekonzerns im Stadtteil Stöckach hinzuarbeiten. Sie will in Verhandlungen möglichst viel von dem durchsetzen, was die Stadt im geplanten neuen urbanen Stadtquartier mit etwa 600 Wohnungen erreichen will.

Stuttgart - Mindestens 600 neue Wohnungen mitten im Stadtteil Stöckach sollen in ein paar Jahren den drastischen Wohnungsmangel in Stuttgart dämpfen – und auf dem Weg dahin sind jetzt einige Hindernisse aus dem Weg geräumt. Bei der städtebaulichen Neuordnung auf den Flächen des Energiekonzerns EnBW haben die Stadt und der Grundstückseigentümer die Weichen auf Zusammenarbeit gestellt.

 

Eine Mehrheit der Stadträte lehnte einen Antrag der Fraktionsgemeinschaft SÖS/Linke-plus ab, vorbereitende Untersuchungen zu starten, die in eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme münden und letztlich auf eine Enteignung und Abfindung des Grundstückseigentümers hinauslaufen könnten. Die Mehrheit im Gemeinderat entschied sich gegen dieses Signal der Konfliktbereitschaft, weil die EnBW bei wichtigen Eckpunkten für das neue urbane Quartier auf bisherigen Betriebsflächen kompromissbereit scheine. Die Grünen-Fraktion nimmt für sich in Anspruch, in Gesprächen mit EnBW-Vertretern den Durchbruch erreicht zu haben. Ein Sprecher von EnBW wollte auf Nachfrage „zum jetzigen Zeitpunkt nicht Stellung nehmen“. Im Übrigen rede man auch noch mit anderen Gesprächspartnern im Rathaus.

Die Grünen beanspruchen einen Verhandlungserfolg

Das Unternehmen, vermeldete der Grünen-Fraktionschef Andreas Winter, habe einige Dinge zugesagt. Es wolle bei den Verfahrensschritten eng mit der Stadtverwaltung und dem Gemeinderat zusammenarbeiten, sogar mehr als 600 Wohneinheiten schaffen und im Rahmen des Stuttgarter Innenentwicklungsmodells (Sim) 40 Prozent der Wohnfläche als geförderte Wohnungen ermöglichen, was mindestens 240 bezahlbare Wohnungen bedeute. Zudem wolle die EnBW Angebote für Kinderbetreuung, Einkaufen, Freizeit und Sport sowie Dienstleistung innerhalb des Quartiers ermöglichen, mit einer Bürgerbeteiligung ins Verfahren gehen. Außerdem seien Vorkehrungen besprochen, damit sich im Quartier nicht Gesellschaften einkaufen, die an Maximalrendite orientiert sind. Für mindestens 20 Jahre werde die EnBW selbst oder ein anderer „öffentlicher Anteilseigner“ Eigentümer des neuen Mietquartiers Stöckach sein. Die EnBW prüfe auch, ob die Sim-Konditionen für 30 Jahre angewendet werden. Sowohl Winter wie auch Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) deuteten am Donnerstagabend im Gemeinderat an, dass man auch noch über eine Aufstockung in Richtung 50-Prozent-Quote von geförderten Wohnungen rede. Das ist der Prozentsatz, den die Stadt bei Projekten auf eigenem Boden anstrebt.

Ehe die Entscheidung im Gemeinderat fiel, hatten OB Fritz Kuhn (Grüne) und Föll dringend von den vorbereitenden Untersuchungen abgeraten: Im Moment gebe es zwar keine Gewissheit, aber die „Chance“, dass man gemeinsame Rahmenbedingungen vereinbaren könne. „Wer schon jetzt den Vorbereitungen auf die Anwendung des schärfsten Instruments der Kommune zustimmt, beseitigt diese Chance vorsätzlich“, warnte Föll. Dazu komme, dass dieser Weg rechtliche Risiken für die Stadt berge und die Realisierung des neuen Quartiers verzögern würde.

Eine Minderheit fordert die Anwendung stärkerer Instrumente

Davon ließ sich Hannes Rockenbauch, Sprecher der Fraktionsgemeinschaft, nicht beirren. Die Stadt müsse versuchen, das Gelände in ihr Eigentum zu bringen. Dann könne sie auf längere Sicht die Wohnungs- und Mietkonditionen im Quartier prägen. Bei einem Projekt dieser Bedeutung könne die Stadt nicht das Standardverfahren mit dem Sim-Verfahren anwenden. Das ist das Verfahren, bei dem die Stadt neues Baurecht in Form eines neuen Bebauungsplans gewährt, wenn der Investor von der Wertsteigerung für das Gelände die Einrichtungen des sozialen Bedarfs mitfinanziert und eine Quote von besser bezahlbaren, öffentlich geförderten Wohnungen erfüllt. Rockenbauch sieht das kritisch: Der Boden sei dann sehr viel mehr wert als im Stöckach die bisherige Fläche für Energieversorgung. Diesen Wertzuwachs rechne die EnBW in die späteren Mieten ein. Dass die Wohnungen bezahlbar bleiben, müsse die Stadt mit Subventionen teuer bezahlen. Rockenbauchs Motto: „Der Boden muss unter die Kontrolle der Stadt kommen.“ Die EnBW stehe vielleicht für ein Projekt mit modernem technologischem Standard, für die sozialen und ökologischen Ziele der Stadt für dieses Quartier sei sie nicht kompetent.

Einzig die SPD unterstützte die Fraktionsgemeinschaft. Ihr Fraktionschef Martin Körner sagte, der EnBW winke ein „klassischer Spekulationsgewinn“. Man wolle ja noch nicht die Anwendung des scharfen Instruments beschließen, sondern nur die Vorbereitung. Ein Kompromiss bleibe immer noch möglich. Damit jedoch wollten die beiden Fraktionen einen gewissen Druck auf EnBW aufbauen. Bürgermeister Föll warnte abermals: Die Stimmung würde dadurch schwieriger. Vom Spekulationsgewinn bleibe der EnBW auch im Sim-Verfahren „nicht viel übrig“.

OB Kuhn kritisiert den SPD-Fraktionschef

OB Kuhn knöpfte sich den SPD-Chef gesondert vor, indem er auf dessen jüngsten Vorstoß einging, den Streit mit EnBW um das Fernwärmenetz zu beenden und gemeinsam die Wärme- und Energiewende in Stuttgart voranzubringen. Körner tue so, als könnten die grün-schwarze Landesregierung und der grüne OB „es der EnBW mal so richtig zeigen“ und als könnten sie das teilweise dem Land gehörende Unternehmen auf Harmoniekurs bringen. Körner müsse aber wissen, dass weder die Stadt noch die EnBW einfach auf Millionengelder verzichten dürften, dass die EnBW dem Aktienrecht unterliege und die Aufsichtsratsmitglieder die Pflicht hätten, bei der „wirtschaftlichen Optimierung“ mitzuwirken. Körner selbst sei vor vier Jahren einer der „Haupttreiber“ für die Klage der Stadt auf Herausgabe des Fernwärmenetzes gewesen.

Im bürgerlich-konservativen Lager herrschte Kopfschütteln über SÖS/Linke-plus. „Die EnBW will doch kein Atomkraftwerk mitten im Stöckachviertel bauen“, erinnerte CDU-Fraktionschef Alexander Kotz. Die letzten Meinungsunterschiede zwischen EnBW und Stadt seien „nicht unüberbrückbar“. Für die CDU sei der Eigentumsgedanke wichtig. Am Ende stimmten nur 17 Stadträte für den Antrag von SÖS/Linke-plus, neben OB Kuhn weitere 37 Stimmberechtigte dagegen.

Der EnBW-Vorstandschef Frank Mastiaux hatte noch vor der Gemeinderatssitzung im Interview mit unserer Zeitung gesagt, zur Anwendung des Instruments Entwicklungsmaßnahme gebe es keinen Grund. Das Unternehmen habe selbst hohe Ansprüche an das Projekt, mit dem EnBW ein neues Geschäftsfeld eröffnen und sich als Anbieter von modernster Infrastruktur neben neuen Wohnungen beweisen will.