Tübingens Oberbürgermeister Palmer fordert, dass Städte die ortsübliche Vergleichsmiete für verbindlich erklären dürfen – und jede Mieterhöhung überprüfen.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Wohnen in Deutschland wird immer teurer. Die Mietpreise in vielen Städten explodieren. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) fordert deshalb im Interview eine scharfe Marktkontrolle – und den Rückgriff auf ein staatliches Instrument, das es bereits viele Jahre in der Bundesrepublik gab.

 
Herr Palmer, viele Menschen leiden unter immer höheren Mieten und einem Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Die Landesregierung will ab April mehr als 10000 Sozialwohnungen zusätzlich in Baden-Württemberg fördern. Das klingt viel. Ist es auch genug?
Genug ist es nicht. Der Bedarf ist immens groß. Ich weiß von einem Anbieter in Tübingen, der für drei Sozialwohnungen binnen zwei Tagen mehr als 280 Bewerbungen hatte. Aber es ist gut, dass die Landesregierung jetzt viel mehr Geld und Engagement in dieses Thema steckt als früher. Zur Zeit der Regierung von Stefan Mappus sind keine 100 Sozialwohnungen pro Jahr gebaut worden.
Sozialwohnungen sind eine Lösung für besonders bedürftige Bürger. Wie aber sollte insgesamt dem Anstieg der Mieten entgegen gewirkt werden, der ja längst Normalverdiener hart trifft?
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Fundamente der Gesellschaft brüchig werden. Wenn sich in einer Stadt wie Tübingen die Krankenschwester oder der Polizeibeamte keine Wohnung mehr leisten kann, dann gefährdet das den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dafür gibt es eine Ursache, die man allein in Deutschland nicht mehr in den Griff bekommt: ein riesiger Kapitalstrom ins „Betongold“. Allein aus dem Ausland sind im vergangenen Jahr mehr als 30 Milliarden Euro in deutsche Immobilien gesteckt worden. Das treibt die Preise in astronomische Höhen. Dem kann man nicht mit Neubau begegnen. Das dauert zu lange, ist zu teuer und die notwendigen Flächen sind nicht vorhanden. Das Einzige, was jetzt noch hilft, ist eine wirksame Preiskontrolle. Wir brauchen ein Mietobergrenzengesetz.
Soll das heißen: der Staat setzt die Preise für Mietwohnungen fest?
Ja, so neu ist das auch gar nicht. Wir hatten bis 1967 in Tübingen ein Amt, das jeden einzelnen Mietvertrag genehmigt hat. Es gab Richtwerte – heute wäre das der Mietspiegel. Und teurer als mit dem Richtwert festgelegt durfte man nicht vermieten. Die Städte müssen wieder die Möglichkeit erhalten, die ortsübliche Vergleichsmiete zu einem verbindlichen Maßstab zu machen und jede Mieterhöhung zu prüfen. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, die Preise auf dem Mietwohnungsmarkt in den Griff zu bekommen.
Gerade erst wurde bundesweit eine Mietpreisbremse eingeführt. Sollten wir nicht erst einmal abwarten, wie sie wirkt?
Da muss man nichts mehr abwarten. Die gibt es seit zwei Jahren und sie ist wirkungslos. Die Mietpreisbremse hat jede Menge Schlupflöcher. Und ihr entscheidendes Problem ist: sie zwingt den Mieter, gegen den eigenen Vermieter zu klagen. Welcher Mieter tut so etwas? Wenn die Mietpreisbremse das bewirken würde, was auf dem Papier steht, wäre das Problem weitgehend gelöst.
Sie fordern ein Bundesgesetz. Soll der Bundesbauminister auch mitbestimmen bei den Mietpreisen?
Auf keinen Fall.Die Mietsituation ist von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Das Problem haben wir vor allem in den großen Ballungsräumen. Deshalb muss das jeweils in den Kommunen geregelt werden. Und der Höchstpreis muss sich aus dem jeweiligen Mietspiegel ergeben. In Tübingen sind das heute zehn bis zwölf Euro pro Quadratmeter. Es geht also nicht darum, Immobilienvermögen zu enteignen, sondern den weiteren Preisanstieg zu stoppen. Der ist sozial nicht mehr tragbar.
Nehmen Sie mit einer solchen Deckelung der Mieten nicht potentiellen Investoren jeden Anreiz, ihr Geld in den Wohnungsbau zu stecken? Die Baupreise werden ja weiter steigen.
Die Spekulanten zu vertreiben ist sogar mein Ziel. Die Baupreise sind gar nicht das entscheidende Problem. In Tübingen zum Beispiel macht bei einem Quadratmeterpreis von 6000 Euro die Herstellung nur 3000 Euro aus. Die andere Hälfte sind Grundstückspreisgewinne und Bauträgergewinne. Dieser aufgeblähte Teil der Wohnungspreise darf nicht ständig weiter steigen.
Mit einer Mietpreisobergrenze griffe der Staat tief in die Eigentumsrechte ein. In den Ohren vieler Menschen wird ihr Vorschlag nach Kommunismus klingen.
Das stimmt. Manche glauben, eine Regulierung des Marktes sei automatisch DDR oder Kommunismus. Deswegen weise ich darauf hin, dass ich nur die Wiedereinführung von Regeln fordere, die Ludwig Erhard und Konrad Adenauer in ihrer gesamten Amtszeit für legitim gehalten haben. Und das waren zwei Kanzler aus den Reihen der CDU. Es ist auch völlig im Einklang mit unserer Verfassungsordnung. Der Neoliberalismus rund um die Jahrtausendwende hat den Wertekompass verschoben und lässt uns vor Korrekturen zurückschrecken, selbst wenn das Marktversagen offenkundig ist. Die Wohnung ist nicht irgendein Massengut, das man beliebig vervielfältigen kann. Deshalb braucht es besonderen Schutz.
Die FDP in Baden-Württemberg schlägt vor, das Mietrecht zu lockern, staatliche Vorgaben etwa beim Klimaschutz zurückzunehmen und mehr steuerliche Vorteile beim Wohnungsbau einzuräumen. Sind diese Ideen nicht mindestens so klug wie Ihre?
Die FDP sagt, was sie immer sagt und ignoriert die nüchternen Fakten. Der Preisanstieg auf dem Wohnungsmarkt ist zum geringsten Teil staatlichen Auflagen geschuldet. Wir haben es hier mit Spekulation mit „Betongold“ in großem Stil zu tun. Und solange die Europäische Zentralbank ihre Nullzinspolitik fortsetzt, wird sich das nicht ändern. Das aber wird so schnell nicht passieren. Also müssen wir nach alternativen Handlungsoptionen suchen.
Erwarten Sie für Ihre Vorschläge Unterstützung von der neuen großen Koalition, die sich nun in Berlin abzeichnet?
Im Sondierungspapier von Union und SPD steht, dass man die Mietpreisbremse erst 2020 überprüfen will. Eine Überarbeitung könnte also frühestens in der nächsten Legislaturperiode wirksam werden. Das ist viel zu spät. Ich sehe da auch die Kanzlerin in der Pflicht. Wer eine Million Flüchtlinge ins Land lässt, die fast alle eine Wohnung aus Steuermitteln benötigen, der muss wirksam gegen den Anstieg der Mietpreise vorgehen. Unbezahlbare Wohnungen sind sozialer Sprengstoff. Die Lunte brennt, sie muss gekappt werden. Wer wäre dafür eigentlich besser geeignet als die Sozialdemokraten? Die SPD müsste dann allerdings in den Koalitionsverhandlungen deutlich mehr liefern als in dem Sondierungspapier.