Auf dem Weg nach oben erzählt Deutschlands bester Ringer Frank Stäbler von seinen Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von seinen Tiefpunkten.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Frank Stäbler hat Hunger, genauer gesagt: Döner-Hunger – und das schon vormittags um half elf. „Da hinten brutzelt ein schöner Spieß“, sagt er und zeigt vom Marienplatz in Richtung Böblinger Straße: „Also, da schaue ich nachher mal vorbei.“ Zuvor steht aber das Zahnradbahngespräch auf dem Speiseplan des 24-Jährigen. „Grillen Sie mich jetzt?“, will vor der Unterhaltung Deutschlands derzeit bester Ringer wissen, dessen Gedanken sich an diesem Tag oft ums Essen drehen. Ist ja auch verständlich, schließlich bietet sich jetzt für diese Woche die letzte Gelegenheit, in die Vollen zu gehen. „Morgen werde ich auf Diät gesetzt“, sagt Stäbler und verzieht das Gesicht. Am Wochenende ist in Polen der letzte Härtetest vor der WM, und dafür braucht er 66 Kilogramm. Im Moment bringt es Frank Stäbler auf 73 Kilo. „Ich darf gar nicht daran denken, was alles kommt“, sagt Frank Stäbler und denkt dann doch daran: an Seilhüpfen im Neoprenanzug zum Beispiel, wenn eine Stunde vor dem Wiegen noch ein paar Gramm ganz schnell verschwinden müssen. „Ich habe immer zwei Kämpfe“, sagt er, „den auf der Waage und den auf der Matte.“

 

Es ist an der Zeit, Frank Stäbler auf andere Gedanken zu bringen. Also, jetzt aber rein in die Zahnradbahn und ab in Richtung Degerloch. Auf der Fahrt dorthin geht es um die Höhepunkte in seiner Karriere. Der eine war die Olympiaqualifikation, die er mit dem fünften Platz bei der WM in Istanbul erreichte. Ein Kindheitstraum erfüllte sich. Der andere lässt sich in Belgrad verorten. Dort wurde Stäbler im Frühjahr 2012 Europameister, als erster Deutscher nach Thomas Zander 1994. Damit nicht genug: im Halbfinale sorgte er für eine der spektakulärsten Szenen im griechisch-römischen Ringen, in dem nur Aktionen oberhalb der Gürtellinie des Gegners erlaubt sind.

Mit der verpassten Chance kann Stäbler gut leben

Frank Stäbler befand sich in einer aussichtslos erscheinenden Situation. Sekunden vor dem Ende des Kampfes lag er gegen den serbischen Lokalmatador Alexander Maksimovic nach Punkten zurück. „Ich habe gesehen, dass er sich immer kleiner macht“, erinnert sich Stäbler, der eine in der Weltklasse bis dato noch nie gesehene Gegenmaßnahme wählte. Sie sollte den Namen „Fliegendes Eichhörnchen“ bekommen. In Fachkreisen erfreut sich das entsprechende Youtube-Video großer Beliebtheit, in dem zu sehen ist, wie Frank Stäbler seinen Kontrahenten anspringt, bäuchlings auf dessen Kopf und Schulter landet, Maksimovic nach unten drückt, ihn im Fallen aushebelt und aufs Kreuz legt.

Hätte Frank Stäbler dieses Kunststück einige Wochen später bei den Olympischen Spielen fertiggebracht, er hätte für einen der ganz großen Momente im deutschen Sport gesorgt. So wie ein anderer deutscher Griechisch-römisch-Ringer, so wie Pasquale Passarelli. Der holte sich mit einem einzigartigen Kraftakt 1984 Gold bei den Spielen in Los Angeles, als er sich unglaubliche 90 Sekunden lang erfolgreich dagegen wehrte, vom japanischen Favoriten Massaki Eto auf die Schultern gelegt zu werden. Wer damals vor dem Fernseher saß, hat heute noch die Stimme des Kommentators Jürgen Emig im Ohr, der Passarelli anflehte: „Pasquale, halt die Brücke.“ Weil die „Goldene Brücke“ Millionen live sahen, das „Fliegende Eichhörnchen“ dagegen kaum einer, will Stäbler weiter hart daran arbeiten, so etwas wie eine deutsche Ringerlegende zu werden.

Mit der verpassten Chance scheint der fröhlich-sympathische Frank Stäbler aber gut leben zu können – und zwar in Musberg, wenige Kilometer von Stuttgart entfernt. Hier ist er der Star. Hier hat er früh mit seinem Sport angefangen, weil im Mutter-Kind-Turnen kein Platz mehr frei war, dafür ein Stockwerk höher bei den kleinen Ringern. Musberg – das ist ein einziger Höhepunkt für ihn. Musberg, das sind seine Kumpels, das ist der TSV – alle zusammen sind sie 2010 in die Bundesliga aufgestiegen. „Da standen plötzlich wir Musberger Jungs Weltklasseleuten aus der Türkei, Georgien und Aserbaidschan gegenüber. Ein Wahnsinnserlebnis“, sagt Stäbler über die Bundesliga, die er aber auch kritisch sieht, auch weil er zu den ganz wenigen Deutschen gehört, die dort auftauchen.

Im Trainingslager abschalten und sich fokussieren

Mittlerweile ringt Stäbler in der Bundesliga für den ASV Nendingen. Die Musberger waren sich mit ihrem hausgemachten Team dort fehl am Platze vorgekommen und wollten absteigen. In Nendingen bei Tuttlingen verdient Stäbler jetzt ordentlich, trotzdem arbeitet er weiter für die IT-Firma Nova Tec in Leinfelden, die ihm auch die nötigen Freiräume gibt. Stäbler war es wichtig, in der besten Liga der Welt zu ringen, aber genauso viel Wert hat er darauf gelegt, dass er bei internationalen Wettbewerben weiter für den TSV Musberg starten darf. Stäbler und Musberg – das gehört zusammen.

So wie die Zacke und Degerloch, wo jetzt der Wendepunkt erreicht ist. In fünf Minuten geht es zurück zum Marienplatz. Der passende Zeitpunkt, um über Olympia zu sprechen. Schließlich war die Zeit in London so ein Zwischending – als Fünfter die angestrebte Medaille verpasst, andererseits den Traum von Olympia gelebt: „Ich dachte, ich wäre auf das ganze Drumherum vorbereitet, zum Beispiel auf das plötzlich einsetzende Medieninteresse. Aber wahrscheinlich musste ich alles einmal erleben, um richtig damit umgehen zu können.“ Rio de Janeiro 2016 darf also kommen.

Vielleicht ist Frank Stäbler kurz vor den Spielen auch nicht mehr der Musberger Ring-King zum Anfassen. „Vor den Spielen in London wollte jeder im Ort verständlicherweise etwas von mir wissen: wie ich mich fühle und solche Sachen eben.“ Das sei eine schwierige Situation gewesen. „Einerseits willst du in diesem Moment deine Ruhe haben, andererseits will ich auch nicht, dass die Leute denken: jetzt hält er sich für etwas Besseres und redet nicht mehr mit jedem“, sagt er. 2016 will er deshalb einige Wochen vor den Spielen in einem Trainingslager abschalten und sich fokussieren.

Zum Ringen gehören Blumenkohlohren

Die Zahnradbahn setzt sich talwärts in Bewegung, und der bis jetzt sehr lebendig erzählende Frank Stäbler wird ruhiger und sagt: „Der Tiefpunkt, ja, das war der Unfall.“ Es ist der 7. Juni 2010. Frank Stäbler befindet sich auf der Rückfahrt vom Grand Prix in Dortmund – er sitzt im Auto, am Steuer ein Freund. „Ich saß mit meiner Freundin auf der Rückbank und bin eingeschlafen und wache durch das Geräusch der Rillen am Fahrbahnrand auf. Ich sehe noch neben mir meine schlafende Freundin und meinen Kumpel, der auf dem Lenkrad liegt. Er war auch eingeschlafen. Ich weiß aber nicht mehr, was ich dann gedacht habe – ob ich Angst hatte? Ich weiß aber, dass wir ganz großes Glück hatten.“ Später erfährt Frank Stäbler, dass sie es nicht überlebt hätten, wenn sie unmittelbar zuvor oder danach von der Fahrbahn abgekommen wären. Sonst wäre das Auto von einer Autobahnbrücke gestürzt beziehungsweise gegen Bäume geprallt. So aber schanzte es über die Leitplanke, überschlug sich mehrmals und kam auf einer Wiese zum Stehen. Zunächst wurden bei den Insassen lediglich Gehirnerschütterungen diagnostiziert – bis sich herausstellte, dass Frank Stäblers Hüftknochen angebrochen war, was für ihn vor drei Jahren das WM-Aus bedeutete. „Ich bin vorsichtiger geworden“, sagt Frank Stäbler zu den weiteren Folgen des Unfalls. Mit seinem Ford Mustang lässt er es seitdem deutlich langsamer angehen. „Und dann höre ich noch manchmal dieses Geräusch vom Überfahren der Rillen am Fahrbahnrand.“

Endstation Marienplatz, aussteigen und rüber ins Café Kaiserbau. Frank Stäbler bestellt einen Bagel mit Frischkäse und erzählt von einem weiteren Tiefpunkt, der sich in letzter Zeit aber ins Gegenteil verkehrt hat: „Ich konnte es nicht glauben, als ich gehört habe, dass Ringen aus dem olympischen Programm gestrichen werden soll.“ Danach sieht es mittlerweile nicht mehr aus. „Es hat mich beeindruckt und macht mich richtig stolz, wie die Reaktionen auf das drohende Aus ausgefallen sind“, sagt Frank Stäbler: „Da verbünden sich plötzlich der Iran, Russland, China und die USA, um gemeinsam zu protestieren. Das gehört jetzt auch zur großen Geschichte des Ringens.“

Frank Stäbler sagt aber auch, was noch zum Ringen gehört; Blumenkohlohren, die durch Schläge und nicht verheilte Blutergüsse entstehen: „Ich habe immer gedacht, ich bleibe verschont. Ich habe mich leider getäuscht.“ Auch was die Zeit angeht. „Schon so spät, ich muss zur Arbeit, vorher hol ich mir aber noch den Döner.“