Das Zahnradbahngespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten – heute: die oft schmerzhaften Erfahrungen eines Kinderstars.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Tina Riegel pocht sich mit der Faust aufs Schlüsselbein und sagt: „So schnell würde mein Herz schlagen. Ich wäre nervös. Ich würde aber versuchen, meinen Mut zusammenzunehmen und ihm sagen, dass ich sehr gelitten habe.“

 

Das ist ihre Antwort auf die Frage, was passieren würde, wenn jetzt Karel Fajfr das Café Kaiserbau am Stuttgarter Marienplatz betreten würde.

Tina Riegel ist 49 Jahre alt, verheiratet, sie hat drei Kinder und heißt mittlerweile Jöst mit Nachnamen. Im Zahnradgespräch hat sie zuvor munter drauflos geplaudert, viel gelacht und einen selbstbewussten Eindruck gemacht. Doch als nun bei einem Cappuccino die Sprache noch einmal auf ihren ehemaligen Trainer Karel Fajfr kommt, wird sie nachdenklich. „Verrückt, dass einen eine Person auch nach so vielen Jahren einfach nicht loslässt“, sagt Tina Riegel, die eigentlich möglichst viel Distanz zu dem Mann haben will, der ihr das Leben als Kind und Jugendliche so schwer gemacht hat. Sie nennt Fajfr „den tschechischen Trainer, der oft wüscht zu mir war“. Der schwäbische Begriff „wüscht“ ist in diesem Fall beschönigend.

WM-Bronze und EM-Silber im Paarlauf 1981

Doch zunächst sitzt Frau Riegel („Sie müssen nicht Jöst sagen“) in der Zahnradbahn und erzählt auf der Fahrt nach Degerloch von den schönen Seiten ihrer Sportart Eiskunstlauf, die sie in Deutschland Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zusammen mit ihrem Partner Andreas Nischwitz wieder populär macht. Als Nachfolger von Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler werden sie gefeiert. Vor allem die so gewitzt und natürlich wirkende Tina Riegel schließen die Zuschauer in ihr Herz. 1981 gewinnen die 15-Jährige und ihr acht Jahre älterer Partner in den USA WM-Bronze und in Innsbruck EM-Silber. Zwischen 1979 und 1981 werden sie außerdem dreimal deutsche Paarlaufmeister.

„Das waren wirklich schöne Momente, die ich genossen habe“, sagt Tina Riegel, die zuvor auch in der Einzelkonkurrenz an den Start ging. Auf einen Wettbewerb ist sie da besonders stolz. In New York landete Tina Riegel einmal vor Katarina Witt, der späteren gesamtdeutschen Eislaufkönigin. „Und danach waren wir zusammen bei McDonalds Hamburger essen. Das durften unsere Trainer natürlich nicht wissen. Wir mussten ja wirklich auf jedes Gramm aufpassen, und bei ihr kam ja noch das politische Problem als DDR-Athletin dazu. “

Die Zahnradbahn ist kurz vor dem Wendepunkt in Degerloch, da sagt Tina Riegel: „Mein Trainer konnte auch nett sein und motivieren.“ Wie sich auf der Fahrt zurück zum Marienplatz schnell herausstellt, war das aber eher selten der Fall. Es geht nun um die Tiefpunkte in Tina Riegels Karriere für die eigentlich ausschließlich Karel Fajfr zuständig ist. „Wenn ich im Training einen Fehler gemacht habe, hat er mich an den Haaren gezogen, geschlagen und beschimpft. Er behauptete, ich würde absichtlich hinfallen. Absurd, oder?“

Der Eis-Tyrann Karel Fajfr und seine Demütigungen

Tina Riegel schüttelt den Kopf und sagt: „Schon erstaunlich, was ein Kind alles ertragen kann.“ Ein besonders demütigendes Training unter dem Angst verbreitenden Trainer ist ihr in spezieller Erinnerung geblieben. Sie rennt weinend aus der Eishalle und legt den ganzen Heimweg von Degerloch nach Sillenbuch zu Fuß zurück – in Schlittschuhen. Am nächsten Tag ist sie aber wieder im Training. Was haben die Eltern dazu gesagt? „Nicht viel, sie haben aber auch gelitten“, sagt Tina Riegel, „mein Vater ist eher ein harmoniebedürftiger und konfliktscheuer Mensch. Und meine Mutter war ganz sicher keine ehrgeizige Eislaufmama. Ich wurde Eiskunstläuferin aus eigenem Antrieb.“

So konnte der Eis-Tyrann Karel Fajfr weiter Tina Riegel seelisch und körperlich verletzen. „Mein Partner Andreas Nischwitz hat mir später immer wieder gesagt, dass er es sich nicht verzeiht, im Training nicht dazwischengegangen zu sein.“ Ihm, der wie alle männlichen Läufer von Fajfr nicht brutal angegangen wurde, ist Tina Riegel nicht böse. Ihrem damaligen Verein tus Stuttgart schon eher. Fajfrs Trainingsmethoden seien ja nicht zu übersehen und zu überhören gewesen. Trotzdem unternahmen die Verantwortlichen nichts dagegen. Tina Riegel sagt: „Im Eislaufen ist ohne Härte und Disziplin nichts zu erreichen, aber es muss Grenzen geben.“ Und die habe der Trainer ständig überschritten.

Der Fajfr-Spuk auf der Waldau hat dann erst lange nach dem Karriereende von Tina Riegel ein Ende. 1994 belasten ihn zwei Stuttgarter Läuferinnen schwer. Ein Jahr später wird der Trainer wegen Misshandlung und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in elf Fällen und Körperverletzung in zwei Fällen zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe auf Bewährung und zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 000 Mark verurteilt. Dazu kommen drei Jahre Berufsverbot. „Mich hat er aber nicht sexuell belästigt“, sagt Tina Riegel, die froh darüber ist, dass ihre Kinder nie den Wunsch hatten, ins Eiskunstlauftraining zu gehen.

Verletzungsbedingter Karriereende mit 16 Jahren

Sie selbst zieht nur noch die Schlittschuhe an, wenn im Winter auf dem Schlossplatz die Eisbahn aufgebaut ist. Und wenn sie alte Fotos oder Filmaufnahmen von sich sieht, fühlt sich das komisch an. „So, als würde das gar nicht ich sein, die ich da sehe.“

Bereits mit 16 Jahren ist die Karriere von Tina Riegel beendet. Nach einem Trainingssturz und einer schweren Sprunggelenkverletzung ist Schluss. Darüber spricht sie im Café und nicht auf der Talfahrt. Tina Riegel empfindet den Ausstieg ja auch nicht als Tiefpunkt. Es folgt nämlich eine Zeit in ihrem Leben, die sie in guter Erinnerung hat. Sie arbeitet fürs Fernsehen, unter anderem als Co-Moderatorin von Rudi Carrell in der Familienshow „Die verflixte 7“. „Ich konnte das alles genießen, weil ich nie nervös war. Angespannt war ich eigentlich nur beim Eislaufen, aber nur dann, wenn die Kür vorbei war und ich noch nicht wusste, ob der Trainer zufrieden war oder nicht.“

Heute arbeitet sie als Kinderbetreuerin im Fitnessstudio

Dem begegnet sie erst viele Jahre nach ihrem Karriereende zufällig in Stuttgart auf der Straße. „Und wissen Sie, was er zu mir als Erstes sagt? ‚Tina, du hast ja überhaupt nichts aus deinem Leben gemacht.’ Das geht doch nicht, oder?“ Die Frage „oder?“ stellt Tina Riegel häufig ans Ende eines Satzes. Auf diesem Weg holt sie sich vielleicht auch ein Stück weit Unterstützung und Sicherheit zurück, die ihr als Eiskunstläuferin gefehlt hat. Sie selbst führt andere Eigenschaften auf die oft schwere Zeit als Sportlerin zurück. „Ich will immer alles perfekt machen. Außerdem kann ich bis heute nicht den Moment genießen. Ein Freundin sagt immer zu mir, dass ich mich auch mal zurücklehnen soll. Das kann ich aber nicht. Ich habe immer im Kopf, was noch alles zu erledigen ist.“

Ausruhen kann sich Tina Riegel nicht, dafür fehlt ihr auch das finanzielle Polster. „Das Eiskunstlaufen hat meine Eltern viel Geld gekostet, und ich habe nie etwas damit verdient“, sagt sie, „wahrscheinlich hat mir ein Manager gefehlt.“ Nach der Zeit auf dem Eis und im Fernsehen ließ sie sich zur Kosmetikerin ausbilden. Mittlerweile arbeitet sie als Kinderbetreuerin in einem Fitnessstudio. Und deshalb muss Tina Riegel jetzt auch gleich noch zum Orthopäden. „Die Kinder dauernd hin und her zu heben, geht halt auf den Rücken“, sagt sie.

Karel Fajfr dagegen arbeitet immer noch als Eiskunstlauftrainer – mittlerweile in Oberstdorf. Tina Riegel sagt: „Das ist nicht gut, oder?“ Nein, das ist es nicht.