„Sensibilisieren wir uns zu Tode?“ fragt der ZDF-Hausphilosoph Richard David Precht in seiner Sendung. Svenja Flaßpöhler plädiert für mehr Sachlichkeit in gesellschaftlichen Debatten.

Stuttgart - Mehr zu haben als andere, das ist schon lange ein Ideal der Konsumgesellschaften. Das erfährt nun eine Erweiterung: Immer mehr Gruppen und Grüppchen konkurrieren scheinbar darum, mehr Traumata zu haben, tiefere Verletzungen und schlimmere verbale Gewalterfahrungen als andere. Individuen, die sich als Teil diskriminierter Minderheiten sehen, werfen der Mehrheitsgesellschaft vor, schon deren Sprache sei ein Arsenal der Waffen, der Herrschafts- und Folterinstrumente. Die rissen alte Wunden auf und schlügen neue. Wo die Minderheiten nun recht haben könnten und wo sie sich in Überempfindlichkeit und Fehlinterpretation verrennen, kann kaum noch unverkrampft diskutiert werden. Denn schnell findet sich jemand, der ganz subjektiv diese Diskussion als Gewaltakt gegen sich selbst empfindet, als unzumutbare Verletzung.

 

Tabus und Empörung

Darum wäre das dreiviertelstündige Gespräch unter Philosophen, das Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler vor einer ZDF-Kamera geführt haben, selbst dann ein Gewinn, wenn es weniger diszipliniert und fassbar verliefe. Weil diese „Sensibilisieren wir uns zu Tode?“ betitelte Ausgabe von „Precht“ a priori darauf beharrt, dass solche Gespräche geführt werden können, dass Zweifel angemeldet, Positionen in Frage gestellt werden dürfen. Und dass der freie Diskurs als Grundlage einer freien Gesellschaft auch dann stattfinden darf, wenn zum Beispiel Menschen mit heller Haut etwas in Frage stellen oder neu durchdenken, das jemand mit dunkler Haut zur unumstößlichen Wahrheit oder zum Tabu erklärt hat.

Das Gespräch über Empörung und Abschottung, Gereiztheit und Wertewandel ist trotz des identischen Themenfelds kein langer Werbeclip für Flaßpöhlers aktuelles Sachbuch „Sensibel“. Es steht für sich und versucht, möglichst feindbildfrei nachzuspüren, wie es zur neuen Unleidlichkeit kam. Die beansprucht letztlich für jedes Individuum völlige Freiheit von allen Zumutungen – ein unerreichbares Ideal.

Hoffen auf die sachliche Ebene

Unlängst saß Svenja Flaßpöhler als Verteidigerin von Grundrechten und individuellem Abweichlertum in einer der vielen Diskussionsrunden zu Corona bei „Hart aber fair“ im Ersten. Im Netz kochten die Emotionen schon während laufender Sendung hoch. Viele Zuschauer nahmen Flaßpöhler, die sich ungeschickt auf Slogans und handverlesene Prinzipien versteifte, als Apologetin der Impfverweigerer wahr. Wer sich „Precht: Sensibilisieren wir uns zu Tode?“ anschaut, um die Wut von neulich aufzuwärmen, wird allerdings enttäuscht werden. Corona und Impfpflicht sind mal nicht das Thema.

„Kann man über Empfindsamkeit reden, ohne die Empfindsamkeit anderer zu verletzen“, fragt Precht gleich eingangs. „Zumindest versuchen kann man es“, erwidert Flaßpöhler. „Und ich denke, wenn es gelingt, eine sachliche Ebene zu betreten, dass es dann auch von Erfolg gekrönt sein kann.“ Da fällt einem dann sofort die Krux der Debatte auf. Es geht einigen ja gerade um den Vorrang der eigenen Gefühle: Sachlichkeit wird nicht als Überprüfungsinstrument, sondern als Negierung der eigenen subjektiven Erfahrung begriffen (oder sollte man sagen: empfunden?). Aber dieses Hindernis, an das reale Debatten stoßen, macht das Gespräch von Precht und Flaßpöhler nicht weniger hörenswert.

Ausstrahlung: ZDF, Sonntag, 28. November 2021, 23.45 Uhr. Ab 8 Uhr am Ausstrahlungstag in der ZDF-Mediathek abrufbar.