Am 17. Februar vor zehn Jahren hat Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt: Auf die Feierstimmung folgte bald die Enttäuschung über den ausgebliebenen Aufbruch in bessere Zeiten. Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven setzen den Menschen zu.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Pristina - Die bunten Banner sind verschwunden: Flagge wird im wintergrauen Pristina im zehnten Jahr der Unabhängigkeit kaum mehr gezeigt. Vereinzelt baumelt Kosovos gelb-blaue Fahne vor Behörden und Ministerien im Wind. Verblichen sind die Fotos albanischer Vermisster des Kosovokriegs, die am Zaun des Parlaments befestigt sind. „Wir hatten gehofft, dass es jeden Tag besser werden würde“, sagt der weißhaarige Fliesenleger Aftim. „Doch meine Hoffnung auf bessere Zeiten wird jeden Tag kleiner.“ Schwer lastet der Smog über den Anhöhen des Wohnviertels „Sunny Hill“. Mit „düsteren Jubiläumsfeiern“ rechnet Lulzim Peci, Direktor des renommierten und unabhängigen Kosovar Institute for Policy Research and Development (Kipred). Die Kosovaren seien zur „Geisel ihrer schlechten Führung“ geworden: „Die Leute fühlen sich von den eigenen Institutionen, aber auch der internationalen Gemeinschaft betrogen.“

 

„Zumindest gibt es keinen Krieg mehr“

Tagelang knallten vor zehn Jahren die Feuerwerkskörper und Sektkorken, als sich Kosovo mit Unterstützung der USA und der wichtigsten EU-Staaten, aber gegen den Willen Serbiens am 17. Februar 2008 für unabhängig erklärte. Der Aufbruch in bessere Zeiten blieb ebenso aus wie die Aussöhnung mit dem Ex-Mutterland: Auch wegen der anhaltenden Sperrfeuer aus Belgrad und Moskau etabliert sich Kosovo international nur mühsam. Zwar haben 111 der 193 UN-Mitglieder die Republik anerkannt. Doch der Beitritt in die Vereinten Nationen, den Europarat oder zu Interpol sowie der Wegfall der Visumpflicht bei EU-Reisen stehen weiter aus. „Zumindest gibt es keinen Krieg mehr“, sagt im Büro des Veteranenverbands der Lkw-Fahrer Sadik. Als Soldat der „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK) hat der heute 44-Jährige im Kosovokrieg 1998/1999 gekämpft. Die Lage habe sich seitdem verbessert, „aber nicht in dem Maße, wie wir das erhofft hatten“. Die hohe Arbeitslosigkeit sei auch für die Veteranen ein Problem: „Viele hängen in den Cafés rum.“

Beim sogenannten Exodus zogen viele nach Deutschland

Im Café Matisse in Pristina erzählt der Kellner Haris Shala, wie er vor drei Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben überstürzt das Land verließ: Auf 70 000 bis 100 000 Kosovaren – fast fünf Prozent der Bevölkerung – wurde Anfang 2015 die Zahl derer geschätzt, die sich beim sogenannten Exodus nach Deutschland aufmachten. Als chancenloser Asylbewerber kehrte der heute 25-Jährige damals nach einem halben Jahr freiwillig aus Waldenbuch zurück. Der gescheiterte Ausbruch hat den eifrig Deutsch lernenden Shala in seiner Auswanderungsabsicht aber nur bestärkt. Eine Arbeitsstelle in einem Restaurant auf der Nordseeinsel Borkum habe er gefunden, er warte nur auf ein Arbeitsvisum. Deutschland sei ein „gut geregelter Staat“, sagt er: „Da werden die Leute anständig und regelmäßig bezahlt.“

Auch Eulex ist in den Ruch der Korruption geraten

Im Kosovo liegt die offizielle Arbeitslosenrate bei 35 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 55 Prozent. Die Dunkelziffern werden noch höher geschätzt. Die Mehrheit der 1,9 Millionen Bewohner muss mit weniger als dem Durchschnittslohn von 350 Euro im Monat auskommen: Viele halten sich nur mit den Überweisungen der Angehörigen im Ausland über Wasser.

Europas Sternenbanner baumelt über dem Eingang des Eulex-Hauptquartiers. Fast so alt wie der Staatsneuling ist die kostspieligste EU-Mission der Geschichte. Die seit Ende 2008 tätige Rechtshilfemission zählte zeitweise 2000 Polizisten, Richter und Staatsanwälte. Viel hat Eulex beim Aufbau einer effizienten Justiz und der Bekämpfung der Korruption trotz des fürstlichen Budgets nicht bewirkt. Im Gegenteil: Wie die berüchtigte frühere UN-Verwaltung Unmik ist auch Eulex in den Ruch der Korruption geraten. Dass viele Kosovaren auch von den Schutzmächten enttäuscht sind, erklärt Kipred-Direktor Peci mit der Unterstützung fragwürdiger Machthaber: „Aus Stabilitätsgründen haben sie immer die Kerle unterstützt, die das Land führten.“

Nach dem Mord an Ivanovic ist die Anspannung groß

Kerzen und Plastikblumen markieren im serbischen Norden der geteilten Stadt Mitrovica den Tatort eines Attentats, das die Kosovoserben zutiefst erschüttert hat: Mit sechs Schüssen in den Rücken wurde der liberale Oppositionspolitiker Oliver Ivanovic am 16. Januar vor seinem Büro ermordet. Ob unter UN- oder Eulex-Ägide: Sicher fühlt sich die auf 100 000 bis 120 000 Menschen geschätzte Minderheit in ihrer Heimat schon seit dem Krieg nicht mehr. Doch es ist inzwischen weniger die Furcht vor albanischen Extremisten als vor serbischen Dunkelmännern, die wie ein Albtraum über Nord-Mitrovica lastet.

Schwarz gekleidet sitzt Ksenija Bozovic unter dem Porträt ihres früheren Chefs. Verbittert berichtet die Vizevorsitzende der SDP über die Attacken, denen Ivanovic ausgesetzt war. Ob Brandanschläge auf sein Auto und Büro, die Misshandlung seiner Frau oder die Demolierung seiner Wohnung: „Sie haben ihm alles angetan und ihn am Ende ermordet.“ Ivanovic’ Warnungen über die bedrohliche Sicherheitslage im rechtlosen Mafia-Eldorado des serbisch besiedelten Nordkosovo fanden weder in Belgrad und Pristina noch bei Eulex und den westlichen Botschaften Gehör. „Keiner nahm ihn ernst oder bot Hilfe an“, sagt Bozovic: „Alle sind für seinen Tod mitverantwortlich.“ Von der aus Belgrad ferngesteuerten Einheitspartei der „Serbischen Liste“ wurde der unbequeme Ivanovic vor den Kommunalwahlen im Herbst als „Verräter“ verteufelt: „Sie haben ihm die Zielscheibe auf die Stirn gezeichnet.“

Bis Kosovo ein „normaler Staat“ werde, sei „mehr als ein Menschenleben“ nötig, sagt der Handwerker Aftim. Früher habe er seiner Tochter gesagt, dass sie im Ausland studieren dürfe, sofern sie zum Aufbau des Landes heimkehren werde. Nun studiere sie in England, und er rate ihr, dort zu bleiben, wenn sie die Chance habe: „Ist es nicht furchtbar, wenn man der eigenen Tochter sagen muss, dass sie lieber nicht wiederkommen soll?“