In den 1920ern galt Stuttgart als Hochburg einer wilden Ära. Die Zeit ist reif für einen Aufbruch in den neuen Zwanzigern, meint unser Kolumnist Uwe Bogen. Mit Künstlern der Varieté-Show „1925“ besuchte er die Altstadt.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Die Parole lautet:  „Polas Engel kehren heim.“ Wer in einer dunklen Gasse des Rotlichtviertels die Bar Holzmaler besuchen will, darf nur rein, wenn er die Parole kennt – rein zur verruchten Welt der 1920er.

 

Polas heimkehrende Engel sind momentan die Türöffner. Wer sie nennen kann, wird sicher durchgelassen – ansonsten nur, wenn es drinnen leer ist.

In Zeiten der US-Prohibition – manche sagen Roaring Twenties dazu –, musste sich verstecken und flüstern, wer einen heben wollte. Die geheimen Treffs für Drinks, die von außen nicht zu erkennen waren, wurden Speakeasy-Bars genannt. Als Hommage an die Zwanziger werden weltweit Flüsterbars eröffnet, obwohl es beim Trinken nichts mehr zum Verstecken gibt. Bald brechen die neuen Zwanziger an. Da will man, so scheint es, die alten noch mal so richtig heftig auskosten.

Die Szene erinnert an ein Gemälde von Otto Dix

Nicht nur als Serienstoff von „Babylon Berlin“ ist die einstige Blütezeit von Kultur, Freiheitsliebe und Emanzipation beliebt. Im Friedrichsbau wird eine 1920er-Jahre Show gespielt, im Alten Schauspielhaus die Neuinszenierung von „Comedian Harmonists“. In Stuttgart gibt’s Charleston-Kurse und Bars im Stil jener goldenen Ära, die Werte und Normen völlig umgekrempelt hat. Seit Oktober kann man im Rotlichtviertel in ein legendäres Lebensgefühl abtauchen.

In dieser Nacht reibt man sich die Augen. Leicht bekleidete Tänzerinnen und Lebemänner mit Anzügen im Schnitt der Mafia-Bosse rücken an. Hat man diese auffälligen Gäste aus vergangenen Zeiten herbeigebeamt – oder einen Gin zu viel gekippt?

Zu Besuch ist das Ensemble der Show „1925“, die bis zum 23. Februar im Friedrichsbau Varieté gespielt wird – es ist eine der besten Inszenierungen, die man in fünf Jahren im neuen Theater auf dem Pragsattel sehen konnte. Die Idee, in Kostümen eine Bar zu erobern, die von der alten Zeit verzaubert ist, hat den Künstlern gut gefallen. Und prompt fühlt man sich mit ihnen beim Holzmaler in ein lebendiges Gemälde von Otto Dix hineinversetzt.

„Wir wollen das Rotlicht nicht vertreiben“

Einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts hat die Vergnügungssucht der 1920er in beißenden Farben gemalt. Halbwelt und Schickeria tanzen bei Dix auf dem Vulkan. Man sieht Bordellbetreiber und Prostituierte – Personengruppen, die dem Leonhardsviertel heute nicht fremd sind.

Die neuen Szenen-Bars der Altstadt kommen nicht bei allen im Viertel an. Fürchtet, wer mit Sexgeschäften verdient, die Freier würden sich angesichts des Wandels nicht mehr hineintrauen in die sündige Meile?

„Wir wollen niemanden vertreiben“, stellt Davide Rago klar, der Barchef beim Holzmaler. An einer guten Nachbarschaft ist ihm gelegen. Von der Umgebung profitieren die neuen Bars ja selbst, weil’s umso mehr prickelt, je lasterhafter es zugeht.

Wer sind Polas Engel?

Weil in den Räumen der Flüsterbar der Holzmaler Johannes Mack vor über 100 Jahren seine Werkstatt hatte, heißt die Location wie dessen Beruf. Und wer ist Pola von der Parole? Die Künstlerin Pola Polanski ist’s, die in der Bar gerade ausstellt. In ihren Arbeiten befasst sie sich mit Doppelmoral und dunklen Seiten des Menschen. Passt wie ins Rotlichtviertel! Die Varieté-Schönheiten könnten Polas Engel sein.

Auch wenn diese Kolumne rotzfrech,wie man in den 1920ern halt war, die geheime Parole mit der Pola verrät, wird Ihnen dies, sorry, liebe Leserinnen und Leser, wenig bringen. Denn es ist die Losung vom Dezember. Bald gibt es eine neue Parole – und es kommt noch viel Größeres auf uns zu. Wenn an Silvester der Zeiger auf Mitternacht springt, sind wir in den Zwanzigern! Wie wild werden sie? Werden sie so umwälzend und erotisch aufgeladen wie einst?

Vor 100 Jahren war der Krieg vorbei – die Menschen wollten das Leben genießen. Ohne Scham gaben sie sich dem Vergnügen hin. Nur noch aufwärts konnte es gehen. Heute steckt uns die Klimakatastrophe in den Knochen, was einen tief nach unten zieht.

Ringelnatz rezitierte im Matrosenanzug anstößige Gedichte

Neben Berlin galt Stuttgart zwischen 1920 bis 1930 als Hochburg des Aufbruchs. Die Stadt am Neckar hatte den Ruf, modern und liberal zu sein. 1922 feierte Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ hier Uraufführung. Mercedes-Benz warb mit Damen, die Bubikopf zu dunkel geschminkten Augen trugen. Im Excelsior rezitierte Joachim Ringelnatz im Matrosenanzug anstößige Gedichte. Im Café des Hotels Marquardt trafen sich selbstbewusst „Homoeroten“. In dieser Zeit gab es einen schwullesbischen Stadtplan für den Kessel. Von den wilden Bars und Bühnen hat in Stuttgart nur ein einziger Treff bis heute überlebt – der Friedrichsbau!

Gibt es Parallelen zwischen den alten und neuen Zwanzigern? Nicht wenige meinen, ein Sturm braut sich zusammen, der für noch viel größere Umwälzungen sorgt als dereinst. Klimanot, Wirtschaftskrise, Rassismus – vielleicht kann man diese schweren Aufgaben nur meistern, wenn man aus dem Genießen, Tanzen und Lieben Kraft schöpft.

Willkommen in den 2020ern – zu einem weiteren Tanz auf dem Vulkan!