Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit sechs Stuttgartern über ihre Jugendzeit. Zum Auftakt blickt der Musiker Helmuth Rilling auf die Fünfziger zurück.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten, jeder kann mitwirken. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit sechs namhaften Stuttgartern über ihre Jugendzeit. Zum Auftakt blickt der Musiker Helmuth Rilling auf die Fünfziger zurück.

 

Rilling ist weltweit bekannt, noch immer verbringt der 82-jährige Musiker und Dirigent viel Zeit im Ausland. Doch Stuttgart ist für ihn Heimat. Warum? Schon in den 1950er Jahren habe er erlebt, wie die Menschen sich gegenseitig geholfen hätten. Das sei wunderbar, sagt Rilling, der mittlerweile in dem Leonberger Teilort Warmbronn lebt.

Herr Rilling, gibt es für die 50er Jahre ein Wort, das Ihr Lebensgefühl auf den Punkt bringt?
Für die späten 40er und frühen 50er Jahre gibt es das: Hunger. Wir Kinder hatten eigentlich immer Hunger, wir bekamen nie genügend zu essen. Als ich von 1948 bis 1952 die theologischen Seminare in Schöntal und Bad Urach besuchte, spielte die Frage des Essens immer noch eine ganz große Rolle. Ich weiß noch, dass die Bauern uns gehasst haben, weil wir jungen Kerle oft ausgezogen sind, und dabei waren ihre Obstbäume ganz stark gefährdet.
Der Hunger war eine Folge des Weltkriegs. Sie waren zwölf Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Wie stark wirkten die Erlebnisse bei Ihnen nach?
Man kann die 50er Jahre ohne den Krieg nicht verstehen. Darf ich eine Episode erzählen?
Natürlich.
Ich wohnte während des Krieges mit meiner Mutter und den vier Geschwistern in Markgröningen. Der Vater war im Krieg. Von Markgröningen fuhr ich immer mit einem Vorortzug nach Ludwigsburg ins Friedrich-Schiller-Gymnasium. Einmal, das war 1944, kamen amerikanische Jagdflugzeuge und griffen den Zug mit Maschinengewehrfeuer an. Der Zug blieb stehen, die Lokomotive brannte, einige sprangen heraus, es gab Verletzte und auch Tote. Ich stürzte als elfjähriges Kind mit dem Schulranzen auch aus dem Zug und warf mich in einen Graben. Mir ist nichts passiert. Aber das Erlebnis werde ich nie vergessen.
Helmuth Rilling als Dirigent Foto: dpa
Eine zweite Kriegserinnerung. Wir wohnten in Markgröningen in einem Haus neben dem Obertor-Turm. Da verlangten die sich zurückziehenden deutschen Soldaten, dass die Bauern die Durchfahrt mit Baumstämmen versperrten. Das haben die gemacht, und das Tor war verrammelt. Dann fuhren französische Panzer vor, und es kam der Befehl, entweder sind diese Stämme in einer halben Stunde weg oder wir schießen das alles zusammen. Da wurde alles schleunigst wieder weg geräumt. Das war im April 1945.
Hat dies Ihr Bild von den alliierten Soldaten geprägt?
Zunächst natürlich, aber später kam der Gegensatz, die Schulspeisung auf dem Schulhof. Die Amerikaner, die zuvor alles kaputt geschossen hatten, verwirklichten jetzt ein humanitär geprägtes Programm – den Marshall-Plan. Wir bekamen so jeden Tag etwas zu essen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, welche Rolle das Phänomen des Überlebens damals spielte. Später erhielten wir aus Amerika Care-Pakete. Der erste Anzug meines Lebens kam aus einem solchen Paket. Ich habe ihn bis zum Abitur getragen.
Mit den Amerikanern kamen nicht nur Anzüge nach Stuttgart, sondern auch Jazz und Rock n’ Roll. Waren Sie dafür empfänglich?
Wir wollten die Musik unbedingt hören. Aber das war in unserem Internat verboten. Wenn ein Freund mal eine Schallplatte von zuhause mitbrachte, dann hörten wir sie im Geheimen. Ich wurde einmal erwischt, als ich auf dem Klavier solche Musik nachmachte. Dabei war der Text banal: ‚Ein Regenwurm hatt’s schön, ein Regenwurm hat’s fein, ach könnt ich doch ein Regenwürmchen sein.‘ Dafür wurde ich erheblich getadelt.