Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte mit den Bürgern erarbeiten. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit Stuttgartern über ihre Jugendzeit. Schauspielerin Katja Bürkle fand Stuttgart in den 90er Jahren nie spießig, provinziell und muffig.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Es empört Katja Bürkle beinahe, dass die Jugendlichen der 1990er Jahre heute oft als unpolitisch und vergnügungssüchtig dargestellt werden. Sie jedenfalls war definitiv anders. Sie mochte Politik, Philosophie, Sport, das Theater – und Stuttgart. Im Interview erinnert sich die Schauspielerin an ihre 1990er Jahre.

 
Frau Bürkle, die Jugendlichen der 1990er Jahre haben keinen guten Ruf: Sie hätten sich nicht für Politik und Gesellschaft, sondern nur für Konsum und Vergnügen interessiert. Waren Sie so?
Ganz sicher nicht. Hedonismus und Verschwendung sind mir in anderen Kontexten nicht fremd, aber wenn wir über die 1990er in meiner Wahrnehmung sprechen, trifft das absolut nicht zu. Das hängt vielleicht mit meinem Alter zusammen – ein Mensch, der die 1990er als 20-Jähriger erlebt hat, hat da sicher andere Erfahrungen. Mein Umfeld setzte sich zusammen aus einem politisch wie sozial sehr engagiertem Elternhaus. Es waren Eltern, die im Gemeinderat saßen und vor allem im Sport sehr viel auf die Beine gestellt haben. Und auch über die Familie hinaus war man in Fellbach-Schmiden, wo ich aufgewachsen bin, mit großer Selbstverständlichkeit gesellschaftlich aktiv und hat Verantwortung übernommen.
Was haben Sie konkret gemacht?
Ich war meine ganze Schulzeit hindurch in der SMV, also der Schülermitverwaltung, aktiv. Ich war Mitglied im Schulrat, stellvertretende Schülersprecherin, Referentin für Kultur oder Sport oder Unterstufenbetreuung. Wir hatten eine Schülerzeitung. Viele meiner Freunde waren in der Antifa aktiv. Man hat Veranstaltungen im Jugendhaus organisiert, Filmabende, Konzerte, politische Veranstaltungen. Ich erinnere mich noch gut an die Menschenkette zwischen den beiden Fellbacher Gymnasien.
Was war der Anlass dafür?
Anlass war der erste Irakkrieg. Unsere Demonstration richtete sich allerdings in erster Linie gegen deutsche Rüstungsexporte.
In den frühen 1990er Jahre war auch in Jugoslawien Krieg. Viele Flüchtlinge kamen nach Stuttgart, fast so viele wie derzeit.
Die Wiedervereinigung, der Irakkrieg und die Jugoslawienkriege, das waren für mich die prägenden politischen Ereignisse. Wir hatten Schüler aus Kroatien und Serbien und Bosnien im Jahrgang. Deren Verhältnis war extrem belastet und schwierig. Die haben jegliche Kommunikation untereinander verweigert. Das musste und wurde dann auch immer wieder im Unterricht besprochen und diskutiert.
1996 starben in Stuttgart sieben Menschen, als ein Gebäude in der Geißstraße in Flammen aufging. Es war Brandstiftung.
Diese Bilder sind in meinem Kopf. Klar. Für mich ist es eine absolute Selbstverständlichkeit, dass man Menschen aufnimmt, die verfolgt werden aufgrund von Geschlecht, Glaube, sexueller Orientierung oder die vor Krieg und Gewalt fliehen. Das Gefährlichste sind aber all die nationalkonservativen, jetzt oft so verharmlosend sich selbst als „besorgte Bürger“ bezeichnenden Menschen, die auf populistische Weise Terrorismus und Flüchtlinge verknüpfen. Das ist, entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, einfach nur dumm, widerwärtig oder schlicht zum Kotzen. Das geht jetzt wieder los.