Tausende DDR-Bürger suchten im Jahr 1989 Zuflucht in der Prager Botschaft. Genscher beendete die Tragödie am 30. September in jenem Jahr um 18.59 Uhr mit einem historischen Satz.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Das Ende des SED-Regimes in der DDR lässt sich auf die Minute genau datieren. Es war der 30. September 1989, 18.59 Uhr. Besiegelt wurde der Untergang nicht in Berlin-Ost oder -West, sondern in Prag. Damals stand Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft der Bundesrepublik und sagte jene historischen Worte, die im Jubel der geflüchteten DDR-Bürger untergingen: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . .“ Die letzten drei Worte „. . . möglich geworden ist“ waren nicht mehr zu hören. Ein Mann allerdings schien die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben: Erich Honecker. Mehr als 4000 Nochbürger seines Staates machten sich damals auf den Weg in die Freiheit. Niemand weine ihnen eine Träne nach, diktierte der SED-Chef damals seinen Staatsmedien.

 

Keiner konnte im Sommer 1989 wirklich erahnen, welche Tragödien sich in den nächsten Monaten im Garten des Palais Lobkowicz abspielen sollten. Zuerst war es eine Handvoll DDR-Bürger, die ihre vielleicht letzte Chance zur Flucht nutzen wollten und Schutz in der Botschaft suchten. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte, schließlich Tausende. Die Dämme brachen, als Ungarn am 11. September 1989 überraschend mitteilte, dass das Land Republikflüchtlinge nicht mehr an die DDR ausliefern würde. Angst machte sich breit, dass Ostberlin nun alle Außengrenzen schließen würde und keine Flucht mehr möglich wäre. So kamen immer mehr Menschen nach Prag. Warfen ihre Koffer über den Zaun der Botschaft, hoben Kinderwagen herüber, kletterten über die Absperrungen, rannten tschechische Polizisten über den Haufen, die sich ihnen in den Weg zu stellen versuchten. Diese Bilder gingen um die Welt, und jeder Fernsehbericht löste eine neue Fluchtwelle aus.

„Ihnen wird nichts geschehen“, versprach Genscher

Nicht nur in Prag, auch in Warschau und Budapest waren die Räume der bundesrepublikanischen Botschaften völlig überfüllt. Aber nirgends war die Situation so zugespitzt wie in Prag, keine Botschaft war so groß wie das barocke Palais Lobkowicz. Im großen Kuppelsaal standen mehrgeschossige Etagenbetten in dichten Reihen. Kellerräume waren zu Matratzenlagern geworden, im Garten standen völlig überfüllte Zelte. Vor den provisorischen Toilettenanlagen und Waschgelegenheiten bildeten sich lange Schlangen, die Organisation der Verpflegung von 5000 Menschen brachte das Botschaftspersonal an seine Grenzen. Die Angst vor Seuchen machte sich breit.

Genscher stand damals natürlich in ständigem Kontakt mit seinem DDR-Kollegen Oskar Fischer. Auch der Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel suchte im Auftrag der Partei- und Staatsführung in Prag mit nach Lösungen, er wurde dabei von einem Anwaltskollegen, Gregor Gysi, begleitet. Sie wollten, dass die Menschen erst einmal nach Ostberlin zurückkehren sollten. Doch längst war die DDR nicht mehr Herrin der Entwicklung. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Außenminister Genscher verhandelten deshalb auch mit Moskau. Ein Problem war am Ende noch die Zugfahrt der Flüchtlinge durch die DDR. Die Menschen befürchteten, dass alles eine große Falle sein könnte. Genscher spürte diese Angst und sagte: „Ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird und dass die Züge ohne Probleme durch die DDR rollen werden.“ Die Menschen vertrauten ihm, und Hans-Dietrich Genscher erlebte den wohl größten Triumph seiner 23-jährigen Regierungstätigkeit.