Erinnerung an einen Holocaust-Überlebenden, der Rache schwor und Versöhnung lebte: Leopold Paul Rosenkranz ist 98-jährig in Stuttgart gestorben.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Fast ein Jahrhundert lang hat Leopold Paul Rosenkranz auf der Erde verbracht. Seine Zeit begann 1922 in Polen und ging jetzt in Stuttgart zu Ende. Die Jahre dazwischen, mehr als 98, waren von teils extremen Erfahrungen geprägt. Rosenkranz war konfrontiert mit dem Schlimmsten, was Menschen Menschen antun können. Er erlebte aber auch die andere, die hoffnungsvolle Seite – nicht zuletzt, weil er sie selbst verkörperte.

 

Geboren wurde er in Radom, 100 Kilometer südlich von Warschau, als Sohn eines Rabbiners. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde die Stadt besetzt und ihre große jüdische Gemeinde nach und nach liquidiert. Rosenkranz, damals 19, verlor fast seine gesamte Familie – 30 Verwandte. Er überlebte das Ghetto als Arbeitskraft in einer Waffenfabrik und wurde er mit anderen überlebenden Juden und seinem dreijährigen Neffen nach Auschwitz deportiert. Zehn Monate lang war es ihm gelungen, den Jungen vor den NS-Häschern zu schützen. Er versteckte ihn in einer Kiste oder auf einem Baum. Auf der berüchtigten Rampe in Auschwitz wurde er ihm entrissen. Sein Todesurteil. Er selbst wurde von Auschwitz nach Vaihingen/Enz ins dortige KZ geschafft. Zwischenzeitlich musste er auch im KZ Unterriexingen Zwangsarbeit verrichten. Am 7. April 1945 befreiten ihn die Franzosen.

Bis zum seinem 90. Geburtstag unterrichtete er Jiddisch

Die Rachegedanken, die er in Auschwitz hatte, verwandelten sich in Gedanken, die auf Verständigung ausgerichtet waren. Und das schon sehr früh. Nach seiner Befreiung aus der KZ-Haft begegnete er einem weinenden Jungen, der auf dem Bahnhof seine Mutter verloren hatte. Er nahm ihn auf den Arm und brachte ihn zu der Frau. „Das war meine Rache“, erzählte er einmal im Gespräch mit unserer Redaktion. Das Erlebte war deshalb aber nicht weg: „Es ist wie ein Buckel, der bleibt“, sagte er auch.

Sein Lebensmittelpunkt wurde Stuttgart. Rosenkranz heiratete eine Deutsche und gründete mit ihr eine vierköpfige Familie. Und er investierte in Bildung: In Tübingen und München studierte er Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte. Außerdem machte er eine Ausbildung als Gebrauchsgrafiker und später als Heilpädagoge. Bis zu seinem 90. Geburtstag unterrichtete er an der Universität Tübingen Jiddisch.

Im Gespräch mit jungen Leuten wollte er Vorurteile abbauen

„Er war kein Mensch, der mit dem Finger auf andere zeigte“, erinnert sich Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Gemeinschaft in Württemberg, die Rosenkranz nach dem Krieg mit aufbauen half. „Sein Bestreben war immer, alles dafür zu tun, dass sich so etwas nicht wiederholt.“ Deshalb ging er in Schulen, unterhielt sich mit Studenten in Tübingen, organisierte Synagogen-Führungen für nicht jüdische Besucher und arbeitete an der Konzeption der Gedenkstätte in Vaihingen/Enz mit. Rosenkranz wollte Vorurteile abbauen. Zu einer Schülergruppe sagte er einmal: „Ihr sollt in die Zukunft schauen und versuchen, nicht nur zu tolerieren, sondern zu verstehen, was das andere Du zu sagen hat, und euch entsprechend verhalten.“ Für sein Engagement erhielt er 2013 die Otto-Hirsch-Medaille der Stadt Stuttgart, mit der Verdienste um die christlich-jüdische Zusammenarbeit gewürdigt werden. Am 13. August ist Paul Leopold Rosenkranz gestorben. Er wurde auf dem jüdischen Teil des Pragfriedhofs bestattet.