Stephen Hawking selbst hat sich einmal den „Archetypus eines behinderten Genies“ genannt. Mit seinen Theorien über die Geheimnisse des Weltalls fesselte er Forscher und Laien zugleich – bis zu seinem Tod im Alter von 76 Jahren.

Stuttgart - Von Albert Einstein ist das Bild in Erinnerung geblieben, das ihn frech mit ausgestreckter Zunge zeigt. Außerdem kennt jeder seine Formel E=mc2 und vielleicht auch den Satz, dass Raum und Zeit relativ seien. Was wird von Stephen Hawking bleiben, dem nach Einstein vermutlich zweitbekanntesten Physiker der Welt? Zum einen die zahlreichen Bilder, die ihn mit gekrümmtem Rücken zusammengesunken im Rollstuhl zeigen, mit schiefem Mund, unfähig zu sprechen. Zum anderen ein schwieriges Sachbuch über die Kosmologie, das vermutlich nur wenige bis zur letzten Seite gelesen haben, obwohl „Eine kurze Geschichte der Zeit“ ein Bestseller war und zehn Millionen Mal verkauft worden ist. Eine Formel oder eine Theorie, die mit Hawkings Namen verbunden ist, kennen die meisten hingegen nicht.

 

Dabei war sein Forschungsziel nicht unbescheiden: „Mein Ziel ist einfach. Es ist das vollständige Verstehen des Universums – warum es so ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert.“ In Fachkreisen ist Stephen Hawking für die Entdeckung einer besonderen Strahlung bekannt. Er wies in den siebziger Jahren nach, dass die sogenannten schwarzen Löcher nicht ganz schwarz sind. Die Schwerkraft dieser gigantischen Himmelsobjekte ist zwar so stark, dass sie alles in ihrer Umgebung anziehen und verschlucken – sogar das Licht. Ein Quäntchen Strahlung entkommt ihnen trotzdem nach und nach: die Hawking-Strahlung.

Der Wissenschaftler konnte nur mit Mühe kommunizieren

Diese kaum bemerkbare Strahlung kann auch als Sinnbild für Hawking selbst gelten, denn auch er konnte sich zuletzt kaum noch bemerkbar machen, über Gestik und Mimik verfügte er nicht mehr. Wenig drang aus seinem Innenleben nach außen. Als „Eine kurze Geschichte der Zeit“ 1988 erschien, konnte er schon nicht mehr sprechen, aber immerhin noch lächeln. Das Lächeln verlor er in den folgenden Jahren. Seinen Namen schrieb er ein letztes Mal im Jahr 1979, als er sich in das Buch des ehrwürdigen Lehrstuhls an der Universität Cambridge eintrug, den schon der Physiker Isaac Newton innehatte. Dennoch übte er sein Professorenamt 30 Jahre aus, bis er 2009 in den Ruhestand ging.

Zuletzt war Hawkings Körper so sehr gelähmt, dass er nur noch mit dem rechten Auge zwinkern konnte. Seinen Rollstuhl, mit dem er sich sonst auch auf Tanzflächen wagte, konnte er nicht mehr selbst fahren. Mit dem Zwinkern steuerte er seinen Sprachcomputer, der entweder vorgefertigte Sätze abspulte – mit amerikanischem Akzent, wie Hawking bedauerte – oder ihn wieder und wieder durch das Alphabet führte, um einen Buchstaben nach dem anderen auszuwählen. Eine Viertelstunde brauchte Hawking für einen Satz, berichten Journalisten, die ihn interviewten. In diesen zähen Gesprächen offenbarte sich ein heller Geist, der sich hartnäckig gegen den körperlichen Verfall behauptete – ihn manchmal sogar zu verneinen schien. Auf die Frage, ob er sich über seine Behinderung ärgere, antwortete er: „Die Leute haben keine Zeit für einen, wenn man sich ständig beschwert.“

Hawking bewahrte stets seinen Humor

Mit den Vorträgen seines Computers gelang es Hawking immer wieder, ein großes Publikum in seinen Bann zu ziehen – Laien wie Wissenschaftler. Und sein Humor verging ihm dabei nie. So erschien er einmal im grünen Anzug eines Marsmännchens auf einer Verkleidungsparty, und sein Sprachcomputer forderte mit verstellter Stimme: „Bringt mich zu eurem Anführer!“ Die oft zitierte Behauptung, dass Hawking von seinen Fachkollegen „für ein Jahrhundertgenie wie Albert Einstein“ gehalten werde, ist zwar übertrieben. Doch ein herausragender Physiker war er allemal. Seine Kommilitonen berichten, dass Hawking in wenigen Stunden Aufgaben löste, an denen sie eine ganze Woche vergeblich geknobelt hatten. Der eigenwillige Student soll auch eher die Fehler in einem Lehrbuch angestrichen als die darin aufgeführten Übungen bearbeitet haben. Noch im vergangenen Jahr publizierte er mit Kollegen einen Fachartikel.

ALS ist bis heute nicht heilbar

Hätte der gelähmte Professor noch mehr erreichen können, wenn er nicht jeden Tag so viel Zeit mit Waschen und Anziehen verbracht hätte? Hawking war anderer Meinung. Gerade beim Anziehen habe er viel Zeit zum Nachdenken, sagte er. Überhaupt habe sein Leben erst Fahrt aufgenommen, als kurz vor seinem 21. Geburtstag die Nervenkrankheit ALS diagnostiziert wurde, bei der die Nerven zur Muskelsteuerung nach und nach zerstört werden. „Meine Erwartungen waren auf Null reduziert, als ich 21 war. Alles seither ist ein Zuschlag“, sagte er 2004 in einem Interview der „New York Times“. Vor der Diagnose hatte Hawking nach eigenen Schätzungen etwa eine Stunde am Tag für sein Studium aufgewendet. Nun gaben ihm seine Ärzte nur noch zwei Jahre zu leben, und er hatte Angst, seine Doktorarbeit nicht mehr beenden zu können. „Plötzlich begriff ich, dass es eine Reihe wertvoller Dinge gab, die ich tun könnte, wenn mir ein Aufschub gewährt würde“, erzählte er später.

ALS ist bis heute nicht heilbar. Warum Hawking noch seinen 70. und 75. Geburtstag mit Symposien zu seinen Ehren feiern konnte, können Ärzte nicht erklären. Die wenigen ALS-Patienten, die lange mit ihrer Krankheit leben, müssen künstlich beatmet werden. Hawking kam meist ohne Atemmaske zurecht, auch wenn er in letzter Zeit Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte und mehrmals ins Krankenhaus musste. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe es nicht eilig zu sterben. Es gibt so vieles, das ich vorher tun will“, sagte er 2011 der Zeitung „The Guardian“.

Zwei Ehen scheiterten

Den Aufschub, der ihm gewährt wurde, hat er zu einem möglichst normalen Leben genutzt. Hawking war zweimal verheiratet, 30 Jahre lang mit seiner Jugendliebe, 1995 heiratete Hawking dann seine Pflegerin. Seit 2006 war er wieder Single, wenn auch mit seiner ersten Frau Jane wieder versöhnt, die ihn einmal als „Haustyrannen“ bezeichnet hatte. Der Kinofilm „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ zeichnete 2014 ein positives Porträt der ersten Ehe mit ihr. Für seine Rolle als Hawking erhielt Eddie Redmayne einen Oscar – auch Hawking lobte dessen Leistung. Hawking, der im Januar 76 Jahre alt wurde, hinterlässt drei Kinder, Lucy, Robert und Tim, die am Mittwochmorgen die Nachricht von seinem Tod veröffentlichten: „Sein Mut und seine Beharrlichkeit verbunden mit seinem Geist und Humor haben Menschen in der ganzen Welt inspiriert“, schrieben sie in einer Mitteilung.

Bis zuletzt war Hawking auf Vortragsreisen und füllte große Säle. Er schrieb auch weiter populäre Bücher, zum Teil gemeinsam mit seiner Tochter Lucy. 2007 nahm er an einem Parabelflug teil, bei dem eine Boeing 727 achtmal aus großer Höhe in die Tiefe stürzte, um für einige Momente die Schwerelosigkeit zu simulieren. Vielen Fluggästen wird bei solchen Manövern schlecht, doch Hawking wollte mehr: nämlich mit einem Raketenflugzeug bis an den Rand des Weltalls in hundert Kilometer Höhe fliegen. Was er machen würde, wenn er einen Tag lang gesund sein könnte, wurde Hawking einmal gefragt. Dinge, die nicht jugendfrei seien, lautete seine Antwort.

Er nutzte seine Popularität

Hawking meinte stets, was er sagte, aber seine Sprüche und Anekdoten waren auch mit Blick auf den Effekt gewählt. Einige wiederholten sich. So soll ihm der Papst bei einer Tagung im Vatikan gesagt haben, dass man über den Anfang der Zeit nicht spekulieren dürfe, doch er, Hawking, habe trotzdem genau zu diesem Thema referiert. Er sei froh gewesen, dass es der Papst nicht bemerkt habe, er wolle schließlich nicht der Inquisition übergeben werden. Diese Geschichte wird schon in Medienberichten der achtziger Jahre zitiert. Doch als Hawking sie bei seiner letzten Vortragsreise durch Deutschland im Herbst 2005 zum Besten gab, hatte er die Lacher, wie immer, auf seiner Seite. Der Popstar der Physik wusste, was sein Publikum hören wollte. Umgekehrt nutzte er seine Popularität, um für die Gentechnik zu werben oder Donald Trump für seinen Rückzug aus dem Pariser Weltklimavertrag zu kritisieren.

Zu Hawkings Erfolgsrezept gehörte, dass er die Fantasie von Science-Fiction-Liebhabern bediente. So ging es in seinen Büchern und Vorträgen um Wurmlöcher im All, die Reisen durch Raum und Zeit erlauben könnten. Und er fragte, was im Inneren eines schwarzen Lochs los ist. 2004 revidierte Hawking bei einem Fachvortrag seine frühere Theorie, nach der alles, was in ein schwarzes Loch fällt, seine Eigenschaften verliert und zur reinen Masse wird. Er glaube nun vielmehr, wie die meisten seiner Kollegen auch, dass alles irgendwann einmal wieder zum Vorschein kommen werde, sagte er damals. Die Materie werde zwar bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht, aber im Prinzip könne man zurückverfolgen, woher sie stamme. Ein Astronaut würde den Sturz in ein schwarzes Loch also nicht überleben, seine atomaren Bestandteile hingegen schon. Mit diesem Eingeständnis verlor Hawking eine Wette mit seinem Kollegen John Preskill und musste ihm ein Baseball-Lexikon kaufen.

Bei „Raumschiff Enterprise“ spielte er sich selbst

In den vergangenen Jahren unterstützte Hawking die Initiativen des russischen Unternehmers Yuri Milner: Dieser will nach Funksignalen von Außerirdischen suchen und einen Schwarm kleiner Sonden mit hoher Geschwindigkeit zum benachbarten Sternsystem Alpha Centauri schicken. Nur Nachrichten ins All senden sollte man Hawking zufolge nicht: Man wisse ja nicht, ob die Aliens friedlich gesinnt seien.

Sein Ruf, besonders intelligent zu sein und sich an grundsätzlichen Fragen der Physik abzuarbeiten, hat Hawking einige Gastauftritte in populären Medien eingebracht. Bisher ist er der einzige Mensch, der sich in der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ selbst spielen durfte. Drei Minuten ist er dort zu sehen, wie er mit dem Roboter Data und den Physikerlegenden Einstein und Newton pokert. Hawking siegte bei diesem Spiel. Etwas anderes hätte das Publikum wohl auch enttäuscht.