Notärzte und Rettungswagen mussten in Stuttgart im vergangenen Jahr so oft ausrücken wie noch nie. Der Zuwachs ist enorm. Dafür gibt es Gründe – aber nur begrenzt taugliche Gegenmaßnahmen.

Die Johanniter-Unfall-Hilfe in Stuttgart verkündet Erfreuliches. Denn an diesem Samstag, 1. April, stellt sie einen zusätzlichen Rettungswagen in Dienst und betreibt damit künftig fünf solcher Fahrzeuge. „Er startet aus Stuttgart-Zuffenhausen und wird tagsüber zwölf Stunden lang im Einsatz sein“, sagt Sven Rausch, stellvertretender Rettungsdienstleiter der Johanniter in der Region. Der Wagen soll Entlastung für die ganze Stadt bringen. „Das erhöht die Chance, dass die Rettungskräfte schneller am Einsatzort eintreffen“, freut sich Rausch.

 

Das ist auch dringend nötig. Denn seit Jahren steigen die Einsatzzahlen im Rettungsdienst. Die Helfer kommen kaum noch hinterher. Deshalb beschließt der sogenannte Bereichsausschuss, in dem Vertreter der Rettungsorganisationen und der Krankenkassen sitzen, immer wieder zusätzliche Fahrzeuge, um der Entwicklung Herr zu werden. Doch meist ist der nächste Anstieg bereits da, bis die neuen Rettungsmittel auf der Straße sind.

Jetzt ist die Situation offenbar vollends aus dem Ruder gelaufen. „Wir haben im vergangenen Jahr in der Stadt einen Anstieg bei den Rettungseinsätzen gehabt wie noch nie zuvor“, sagt Ralph Schuster. Der Leiter des Rettungsdienstes beim Deutschen Roten Kreuz nennt stellvertretend für alle Retter Zahlen, die aufhorchen lassen. 15,5 Prozent beträgt der Anstieg von 2021 auf 2022, das entspricht fast 6000 zusätzlichen Einsätzen bei insgesamt 44 370. Und das erklärt sich nicht etwa – wie zum Beispiel bei der Kriminalstatistik – durch ein großes Corona-Loch zuvor. „Wir hatten schon 2021 wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Das ist wirklich eine Hausnummer“, so Schuster.

Gründe gibt es einige. Und einer davon hat doch mit der Pandemie zu tun. Denn im Monatsvergleich waren deutliche Sprünge zu sehen – immer dann, wenn wieder eine Corona-Schutzmaßnahme abgeschafft worden ist, schossen die Zahlen in die Höhe. Doch nicht nur Corona, auch andere Krankheitswellen rollten besonders zum Ende vergangenen Jahres durch die Stadt und trieben die Blaulichtfahrten in die Höhe.

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Zu den bitteren Erkenntnissen gehört auch, dass die Zahl der unnötigen Einsätze mittlerweile ein enormes Niveau erreicht hat. Auf 30 Prozent beziffert Schuster die Fehleinsätze. Die Retter werden wegen Lappalien gerufen, wenn ein Gang zum Arzt oder in die Notaufnahme eines Krankenhauses genügt hätte. Sie werden auch alarmiert, wenn ein Termin beim Facharzt zu lange Wartezeiten erfordern würde. „Das Gesundheitssystem ist insgesamt hoch belastet. Und am Ende der Kette steht der Rettungsdienst. Vieles ist von uns nicht beeinflussbar“, sagt Schuster.

Klar ist damit, dass man die gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten kann. Bis August vergangenen Jahres mussten sowohl Rettungswagen als auch Notärzte in 95 Prozent der Fälle binnen maximal 15 Minuten am Einsatzort sein. Stuttgart liegt inzwischen unter dieser Marke. Seit September gilt aber landesweit eine neue Vorgabe. Demnach muss das ersteintreffende Rettungsmittel – oft der Rettungswagen – innerhalb von zwölf Minuten vor Ort sein. Für den Notarzt entfällt die Frist. Das bedeutet, dass die Retter eigentlich noch schneller werden müssten.

Das Land hat ein Gutachten in Auftrag gegeben

Dafür bräuchten sie weitere Fahrzeuge und Personal. Doch derzeit liegt in Baden-Württemberg vieles auf Eis, denn das Land hat ein Strukturgutachten zum Rettungsdienst in Auftrag gegeben. Es soll bis zum Jahresende vorliegen. Bis dahin soll eigentlich in den einzelnen Regionen nicht umfangreich nachgesteuert werden.

Auch in Stuttgart wird es deshalb vorerst nur das Johanniter-Fahrzeug zusätzlich geben. Angesichts von jetzt 21 Rettungswagen ist das eher ein kleiner Schritt nach vorn. Zumal selbst der nicht so einfach war. Denn Probleme gibt es nicht nur bei der Personalgewinnung. „Die langen Lieferfristen bei Rettungswagen waren für uns noch eine große Hürde, die wir glücklicherweise gut gemeistert haben. Gerade belaufen sich die Lieferfristen auf etwa eineinhalb Jahre“, sagt Sven Rausch. Zum 1. April starte man mit einem Ersatzfahrzeug, dass sonst als Puffer im Bestand sei. Der neue Wagen soll Ende April eintreffen. Durch die angespannte Weltsituation seien die Lieferketten gestört.

Eine weitere schlechte Botschaft für eine ohnehin hoch belastete Branche.