Zuerst brennt in der Schwarzwald-Gemeinde Baiersbronn das Stammhaus des Gourmet-Hotels Traube Tonbach ab, und dann kommt auch noch Corona. Die filmreife Geschichte der Gastro-Dynastie Finkbeiner, mit Hollywood-Star Nicolas Cage in einer Nebenrolle.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Baiersbronn - Die beste Serie, die noch nicht auf Netflix lief, heißt: „The Finkbeiners“. Eine Schwarzwald-Saga, irgendwo zwischen Chef‘s Table und Denver Clan. Ein Drama in mehreren Akten: 2017 kommt es zur viel beachteten Trennung von Drei-Sterne-Koch Harald Wohlfahrt. Die Sterne bleiben der Schwarzwaldstube auch unter Nachfolger Torsten Michel erhalten, bis sie am 5. Januar 2020, gemeinsam mit dem Restaurant, in Rauch aufgehen. Die kriminaltechnische Untersuchung ist abgeschlossen, die Brandursache bleibt unklar, während Corona die Geschichte des Tourismus neu schreibt.

 

Vielleicht lief die Serie auch deshalb noch nicht auf Netflix, weil man das bisherige Drama keinem Drehbuchschreiber abnehmen würde. Jetzt, wo wieder etwas Ruhe eingekehrt ist, trauen wir uns an den Tonbach.

Das letzte Überbleibsel des Brandes: ein Nussknacker

Erster Akt, Vorspeise: Im Mai ist vom 230 Jahre alten Stammhaus nichts mehr übrig außer einer tiefen Grube. An einen Baum hinter dem Bauzaun hat ein Scherzkeks einen Nussknacker gehängt, ein Überbleibsel des Brandes.

Die Wiedereröffnung der Schwarzwaldstube und der ebenfalls abgebrannten Köhlerstube steht kurz bevor. Beide Lokale ziehen unter dem Namen Temporaire auf das oberste Stockwerk eines Parkhauses, in Leichtbaucontainer, bis der Neubau des Stammhauses 2021 fertiggestellt sein soll. Schwerter zu Pflugscharen, Parkhausdächer zu Restaurants: Wäre auch in Stuttgart ein gewinnbringender stadtplanerischer Eingriff, der an der Realität scheitern würde, weil Baugenehmigungen hier mehr Zeit benötigen als das tatsächliche Bauen in Baiersbronn.

Die Traube Tonbach kann sogar Kantine

Der Familienrat tagt, die Rollen sind klar verteilt. In der weiblichen Hauptrolle: Renate Finkbeiner, Schwarzwald-Vivienne-Westwood, zuständig für den Style der Traube. In der männlichen Hauptrolle: Heiner Finkbeiner. Eigentlicher erster Vorname: Patron. Ururururenkel von Tobias Finkbeiner, der 1789 mit einer Schänke für Holzfäller den Grundstein der Familiensaga legt.

In den weiteren Rollen die Söhne Matthias Finkbeiner (41), zuständig für die Traube-Dependancen, das Schloss Monrepos in Ludwigsburg und das Neue Schloss Meersburg. Sein Bruder Sebastian Finkbeiner (40) bringt selbst Nicht-Programmierer dazu, sich bei der Software-Firma Vector in Stuttgart zu bewerben. Die Traube betreibt die Vector-Kantine und hat dabei das ungeschriebene Gesetz außer Kraft gesetzt, dem zufolge Essen in Betrieben maximal überschaubar schmecken darf.

Sternenklar: der Wald hat einen ganz eigenen Sound

Bei der Besprechung nicht anwesend sind die beiden Töchter von Renate und Heiner Finkbeiner: Antonia war zuletzt in Elternzeit und steigt nun wieder ins Hotelgeschäft ein, Maximiliane geht ihren eigenen, naturwissenschaftlichen Weg.

Beim ersten Zusammentreffen mit der Familie geht es um die bevorstehende Eröffnung des Temporaire aber natürlich auch um das große Ganze. Die Finkbeiners sind sich einig: Das Image des Schwarzwaldes nervt, der Nationalpark ist nur 800 Meter entfernt, der Wald hat einen eigenen Sound, in Baiersbronn gibt es keinen Lichtsmog, hier sieht man die Sterne.

Nicolas Cage bringt seine kalifornische Waldbrand-Erfahrung mit ein

Matthias Finkbeiner, Jäger, 2,03 Meter groß, Jacke im Camouflage-Look, erzählt sehr kurzweilig, wie er kürzlich ein verirrtes Städter-Pärchen im Wald gerettet hat („Habe auf dem Hochsitz meine höchste Stimme benutzt, damit sie sich nicht erschrecken“). Die Hirsche, die der Heavy-Metal-Fan schießt, tauchen manchmal auf der Karte der Schwarzwaldstube auf.

Und dann kommt das Gespräch mal wieder auf das große Feuer vom Januar. Wie Heiner Finkbeiner fassungslos vor seinem zerstörten Lebenswerk stand. „Als das Ding noch gedampft hat, haben wir beschlossen, weiterzumachen“, sagt Sebastian Finkbeiner, und erzählt, wie Schauspieler Nicolas Cage, der zwei Tage nach dem großen Feuer seinen 56. Geburtstag in der Schwarzwaldstube feiern wollte, sich bei beinahe jedem Feuerwehrmann persönlich bedankte, mit einem staatsmännischem „Thank you for your efforts“, und wie er Heiner Finkbeiner mit seiner ganzen kalifornischen Waldbrand-Erfahrung zum Trost in den Arm nahm.

Nach der Besprechung geht es im Schnelldurchlauf durch das „Temporaire“. Der Boden ist noch nicht ganz fertig, die Schreiner sind noch zugange, dabei sollen beide Lokale eine Woche später, an Pfingsten, wiedereröffnet werden. Cliffhanger: Werden die Restaurants rechtzeitig fertig?

Zwischen zwei Corona-Wellen lautet das Programm Baiersbronn statt Bali

Zweiter Akt, Zwischengang: Es ist Juli. Natürlich wurde alles rechtzeitig fertig. Schwarzwaldstube und Köhlerstube sind in der obersten Parkdeck-Etage, der man Parkhaus und Container nicht mehr ansieht, bis Dezember ausgebucht, trotz Corona. Das touristische Programm lautet Baiersbronn statt Bali.

Die New York Times hat das Dorf einmal als „the world’s most unexpected restaurant capital“ bezeichnet, als die „überraschendste Gastronomie-Hauptstadt der Welt“. Vor dem Brand hatten die Lokale der Traube Tonbach insgesamt vier Sterne inne. Ein Tal weiter, im Hotel Bareiss, wird Koch Claus-Peter Lumpp mit drei Sternen bewertet. Im Romantikhotel Sackmann hält Koch Jörg Sackmann einen Stern. Die Gemeinde Baiersbronn, von der jede Autobahnauffahrt mindestens eine Stunde entfernt ist, als Gourmet-Hauptstadt: Wie konnte es soweit kommen?

Heiner Finkbeiner: vom Skispringen zum Küchenwunder

Schuld an diesem Gastro-Märchen ist Heiner Finkbeiner. Von 1974 bis 1976 tauchte er bei Eckart Witzigmann im Restaurant Tantris in München tief ins deutsche Küchenwunder ein, an dessen Ende die überraschende Erkenntnis steht: Auch Deutsche können kochen. Was für ein Sprung von der Nachkriegsküche zur deutschen Haute Cuisine! Wie gut, dass der 71-Jährige einst Deutscher Juniorenmeister im Skispringen war.

Ab 1977 nimmt er die Schanzen des Lebens gemeinsam mit Renate Finkbeiner: Die beiden heiraten und eröffnen im selben Jahr die Schwarzwaldstube. Kennengelernt haben sich die beiden im Brenners Parkhotel in Baden-Baden, wo Renate arbeitete. „Ich wollte die Welt kennenlernen und bin im Tonbach gelandet“, sagt die 68-Jährige.

Die Söhne wachsen zwischen Schwarzwald und Salem auf

Ist ihr der Schwarzwald nicht manchmal zu eng? „Die wahren Reisen macht man mit dem Kopf“, sagt sie, und erzählt von bescheidenen Hotel-Anfängen in einer Zeit, in der Begriffe wie Wellness und Spa noch nicht erfunden sind. Renate und Heiner Finkbeiner heben das gastronomische Level kontinuierlich an – immer im Wettbewerb mit den Familien Bareiss und Sackmann. Baut einer ein Meerwasserschwimmbad, braucht der nächste auch eins.

Bei einem Waldspaziergang erzählt Matthias Finkbeiner anschließend, wie es für ihn und seinen Bruder Sebastian war, mit den Söhnen der Konkurrenz, mit den Kindern der Familie Bareiss aufzuwachsen. Es geht unter anderem um gemeinsame Besuche in der einzigen Diskothek in Reichweite, dem Martinique, das nach eigenen Angaben das Nachtleben von Freudenstadt seit 30 Jahren bestimmt. Discokugel-Details will er nicht verraten, stattdessen erzählt Matthias Finkbeiner lieber von seiner Zeit in Salem, dem Elite-Internat am Bodensee, das er genauso besucht hat wie sein Bruder. Er schwärmt von der Freundschaft zu ehemaligen Schulkameraden, die heute ebenfalls Familienunternehmen führen, und erzählt von Auszubildenden aus der ganzen Welt, die in Baiersbronn eine neue Heimat gefunden haben.

Zwischen Murgtalbarock und Zukunft: ein Dorf voller Kontraste

Heute ist die Traube Tonbach mit über 300 Angestellten der größte Arbeitgeber der Gemeinde. Ehemalige Mitarbeiter, in der Familie nur Traubianer genannt, sind über die ganze Welt verteilt, und betreiben Restaurants, die mit insgesamt mehr als 80 Michelin-Sternen bewertet sind.

Manchmal wirkt die Traube, Kaderschmiede und Melting Pot der Genuss-Schatzsucher zugleich, wie ein Ufo, das aus Versehen in Baiersbronn gelandet ist. Während Renate Finkbeiner, ganz in Schwarz, zum Abschied über Max Weber, die Überwindung des Murgtalbarocks („In Zukunft weniger Holz und weniger Schnörkel“) und den Neubau des Stammhauses spricht, dabei wie so oft eine Menthol-Zigarette in der Hand, verrichtet eine rüstige Eingeborene gegenüber vom Hotel ihre Kehrwoche in Hausfrauenschürze.

Heiner Finkbeiner liefert Anschauungsmaterial der Gastfreundschaft

Dritter Akt, Hauptspeise: Inzwischen ist es September. Heiner Finkbeiner begrüßt Stammgäste Corona-konform mit der Getto-Faust und vermittelt jedem einzelnen Neuankömmling das Gefühl, nur auf ihn gewartet zu haben. Hätte man als Anschauungsmaterial für ein Hauptseminar in der Hotelfachausbildung filmen müssen.

In der Lobby seines Hotels bittet er eine Mitarbeiterin kurz, die etwas dudelige Radio-Musik im Hintergrund leiser zu machen. Dann spricht er über die Frage, ob Arbeiten mit der Familie eher Lust oder Last bedeutet (Antwort: manchmal Bürde, meistens Motivation dank Vertrauen), das alles mit der weichen Stimme eines Crooners, die nach einem eigenen Podcast schreit, Arbeitstitel: „Gruß aus der Küche“.

Torsten Michel landet in der Sterneküche statt im Kampfjet

Finkbeiner erzählt von der Eröffnung seiner Schwarzwaldstube, zu der unter anderem Jahrhundertkoch Paul Bocuse nach Baiersbronn kommt, über das für alle Beteiligten schmerzhafte Ende der Zusammenarbeit mit Harald Wohlfahrt und darüber, wie glücklich er ist, dass in der Schwarzwaldstube heute Torsten Michel kocht. Unter dem schneidet das Lokal 2019 im Jahresranking der weltweit besten Restaurants mit Platz vier als bestes deutsches ab.

Michel ist kein Mälzer, kein Typ fürs Fernsehen. Im Gespräch blüht der in Sachsen geborene 42-Jährige erst auf, als es darum geht, was er geworden wäre, wenn es nicht zu Deutschlands bestem Koch gereicht hätte: Pilot, ganz egal ob im Kampfjet oder im Hubschrauber. Doch dann scheitert der Traum vom Fliegen an einer Rot-grün-Schwäche und Torsten Michel kommt den Sternen auf dem zweiten Bildungsweg näher, als es im Kampfjet jemals möglich gewesen wäre.

Sanft rattert das Uhrwerk in der Küche der Schwarzwaldstube

Endlich beginnt Michels Schicht in der Küche. Was man im Allerheiligsten der Schwarzwaldstube erwartet: Hitze, Lärm, Hektik. Was man bekommt: Ein sanft ratterndes Uhrwerk, eine Ruhe, bei der das Meditationsseminar für Fortgeschrittene an der Volkshochschule Freudenstadt vor Neid erblasst.

Michels Heimspiel-Aura ist beängstigend lässig: „Vier Vegi-Hauptgänge, Tisch drei kann weiter, on y va“. Ein wunderschöner Singsang, den man eigentlich live in den Gastraum übertragen sollte, bestehend aus kurzen, deutschen Ansagen und französischen Einsprengseln, beantwortet mit einem „Jawohl“ aus verschiedenen Ecken.

Irgendwann kann man vor lauter Geschmacksbomben nicht mehr mitschreiben

Es brutzelt, es dampft und riecht umwerfend, trotz Maske, was für ein Wunder der Düfte. Teller werden angerichtet, die aussehen wie Gemälde. Könnte man einrahmen und in der nächsten Eat-Art-Ausstellung in der Staatsgalerie ausstellen: Der kleine Steinbutt, mit Krustentieren gefüllt auf pikantem Gurkensalat, in mildem Mumbaicurrysud mit grünem Apfel schmeckt nach elf von zehn möglichen Punkten. Bitte dasselbe noch mal, aber in Badewannengröße, zum Eintauchen. Auch alle weiteren Gänge, ob der Tatar von roten Riesengarnelen oder die Medaillons von bretonischem Hummer, schmecken so außerweltlich gut, dass man fortan nicht mehr mitschreiben kann, weil man fürchtet, die nächste, höchstmögliche Aromendichte pro Quadratzentimeter zu verpassen.

Wie es nach der zweiten Corona-Welle samt nächster Hotel- und Restaurantschließung weitergehen wird, im Neubau an der Stelle, an der einst das Stammhaus der Traube Tonbach stand? Mehr dazu in der nächsten Staffel von „The Finkbeiners“.