Die ehemalige IBM-Zentrale in Vaihingen soll sich in den nächsten Jahren in einen neuen Stadtteil verwandeln. Bis es so weit ist, wird die riesige Brache ab jetzt aber erst einmal kulturell bespielt – für mindestens zwei Jahre.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Wer auf dem Eiermann-Campus im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen herumstreunert, hat das Gefühl, in einem begehbaren Museum der Industriegeschichte zu wandeln. Die riesige, 20 Hektar große und seit acht Jahren leer stehende Fläche wirkt wie eine Geisterstadt mit einem eigenen kleinen See, an dessen Ufer man Meeresrauschen zu hören glaubt, das aber dann doch leider nur ein Brummen von der angrenzenden Autobahn ist. Wäre das Areal Gegenstand eines Films, würden hier die Außerirdischen mit ihren Ufos landen, um sich zum Beispiel die Geschichte von Egon Eiermann, dem Architekten des deutschen Wirtschaftswunders, erklären zu lassen.

 

Wer die Gebäude erkundet, verläuft sich mehr als einmal. Hilfreicher Wegweiser: Im untersten Stockwerk in einem der Gebäude steht ein Elefant am Fenster. Ein Requisitenfundus hat hier sein Lager. Das ehemalige Büro des Werkschutzes sieht so aus, als hätte hier der Elefant im Porzellanladen gewirkt – die Spuren eines Einbruchs sind noch nicht ganz beseitigt.

Mittlerweile bricht keiner mehr in das Areal ein. Das ist das Verdienst von Frank Borrmann und Thorsten Brose. Die beiden haben sich auf die Instandhaltung von leer stehenden Gebäuden in Stuttgart spezialisiert. Die Zwischennutzung des Azenberg- Areals hatten sie zum Beispiel begleitet. Dieselbe Aufgabe übernehmen sie nun für den Besitzer der ehemaligen IBM-Zentrale, den Investor Mathias Düsterdick, und seine Gerch Group. Der Düsseldorfer ist in Stuttgart kein Unbekannter, seit er sich mit der Stadt einen unterhaltsamen Schlagabtausch um die Villa Berg geliefert hat.

Pawlow’scher Reflex bei der Automobilindustrie

Das Kleinod im Stuttgarter Osten hatte Düsterdick von Rudi Häussler erworben. Später hat ihn die Stadt dazu gedrängt, das Kulturdenkmal wieder zu veräußern – und zwar an die Stadt. Dass sich seitdem bei der Villa Berg nicht mehr viel getan hat, verwundert den Investor, der sechs Jahre lang in Stuttgart gelebt hat und in ganz Deutschland Immobilien entwickelt. „Da sind wir mit der Ex-IBM-Zentrale weiter.“

Düsterdick will auf dem Areal einen neuen Stadtteil errichten, den Garden Campus, entstanden in einem Wechselspiel aus Bürgerbeteiligung und Architekturwettbewerb. Baubeginn soll voraussichtlich im Jahr 2020 sein. „Damit das Gelände nicht weiter brach liegt, wollen wir es ab jetzt für mindestens zwei Jahre für Zwischennutzungen öffnen“, sagt Düsterdick. Die vielen freie Parkplätze auf dem weitläufigen Areal haben bei der Autoindustrie offenbar einen Pawlow’schen Reflex ausgelöst. Laut Düsterdick ist man sich mit einigen Automarken über eine zeitnahe Teilnutzung des Areals einig – als Verkaufs- oder Präsentationsfläche.

Eine ausschließliche Nutzung durch die Autobranche wäre aber Verschwendung. Für Interimsnutzungen stehen rund 50 000 Quadratmeter Bürofläche zur Verfügung. Dem Investor schwebt ein Mix durch Nutzer aus zwei Bereichen vor. „Zum einen wollen wir Start-ups anlocken und Atelierräume für Künstler anbieten. Zum anderen wollen wir das Areal durch Kultur im weitesten Sinne, durch eine Gastronomie und einen Club beleben und das möglichst bald, damit die jungen Menschen, die eines Tages hier leben sollen, das Areal jetzt schon erleben können.“

Neuer Treffpunkt für die Generation Festival

Für die Club- und Gastrothematik sind Brose und Borrmann zuständig. Sie würden gerne mit dem Club Kowalski, der seinen Stammsitz in der Stuttgarter Innenstadt hat, einen Clubbetrieb samt Bühne und Sandstrand am See etablieren. Nach dem Vorbild der Bar 25 in Berlin könnte hier ein Ausflugslokal entstehen, das auf anspruchsvolle elektronische Musik, Foodtrucks und das Lebensgefühl der Generation Festival setzt statt auf schlechte Schnitzel und schlechte Musik. „Außerdem haben wir eine Halle für Einzelveranstaltungen und kleinere Messen im Angebot“, sagt Borrmann. Vom 50. Geburtstag bis zur Hochzeitsmesse sei da alles möglich.

Am Anfang der kulturellen Bespielung des Eiermann-Areals steht das Stück „How to sell a murder house – ein getanztes Immobilienportfolio“ aus der Feder der Autorin Sibylle Berg, inszeniert durch das Theater Rampe. Am Montag beginnen die Proben unter der Leitung der Regisseurin Marie Bues und der Choreografin Nicki Liszta. Die Premiere findet am 24. März statt.

Martina Grohmann, die Intendantin des Theaters Rampe, freut sich auf die Inszenierung, die man als Bergfest auf verschiedenen Ebenen verstehen kann: als Sibylle-Berg-Fest, als Bergfest am Kesselrand und metaphorisch als erster kultureller Festakt auf halbem Weg zum neuen Stadtteil. „Wir wollen die Stuttgarter animieren, mal aus dem Kessel herauszukommen, um diese Sehenswürdigkeit zu erkunden, die in Stuttgart die wenigsten wirklich kennen.“

Der Mann, der die Vergangenheit des Areals personifiziert

Die Rampe will dabei mit dem Stück durch die Gebäude wandern. „Es wird nicht die eine Bühne geben, sondern eine Art Immobilienführung als Theaterinszenierung“, erklärt Grohmann das Stück, in dem Sibylle Berg die Geschichte eines Mannes erzählt, der das leer stehende Haus auf dem Hügel als Zufluchtsort nutzt vor dem Bürgerkrieg, der unten in der Stadt tobt.

Von einem Bürgerkrieg ist Stuttgart zum Glück weit entfernt, der Kampf um bezahlbaren Raum ist aber allgegenwärtig. „Jeder schreit nach Ateliers und Probebühnen und dann gibt es hier dieses Monument einer globalisierten Ökonomie, das seit Ewigkeiten leer steht“, sagt Grohmann. Gerne würde sie die Geschichte des Gebäudes noch besser verstehen.

Anruf bei Reinhard Fasshauer, der die Vergangenheit des Areals personifiziert. Geht es um die Historie der ehemaligen IBM-Zentrale, bringt ein Gespräch mit ihm höchstmöglichen Unterhaltungswert. Fasshauer ist der 170-Millionen-D-Mark-Mann. Für diese Summe hat er die ehemalige IBM-Fläche 1999 an einen Immobilienfonds verkauft. Nach dem Verkauf hat IBM die Fläche direkt wieder angemietet. „In der Summe haben wir mehr Geld verdient, als wir Miete zahlen mussten“, sagt Fasshauer, der 35 Jahre lang für IBM tätig war, sich in den letzten fünf Jahren seiner Karriere als Generalbevollmächtigter „Haus und Hof“ unter anderem um die Liegenschaften der Firma kümmerte und danach Philosophie an der Uni Tübingen studierte.

Stoff für das nächste Theaterstück

In Vaihingen setzte Fasshauer von 1997 bis 2002 eine kleine Revolution der Arbeitswelt um. „Bis in die zweite Hälfte der 90er haben sich maximal drei Mitarbeiter ein Zimmer geteilt, danach wurde alles rausgerissen und in Großraumbüros umgewandelt.“ Die schöne neue Arbeitswelt in Vaihingen wurde ergänzt durch ein ganz neues Phänomen aus Amerika – das Homeoffice. „Damit hatten wir anfangs Probleme, weil der ein oder andere Mitarbeiter die neue Freiheit des Homeoffice lieber fürs Golfen genutzt hat“, erzählt Fasshauer.

Und nach welchen Parametern hat sich der amerikanische Weltkonzern einst für den Sitz der Deutschlandzentrale entschieden? Laut Fasshauer ging das Gerücht um, der US-Computerriese habe nur deshalb Stuttgart als Standort gewählt, weil der damalige Geschäftsführungsvorsitzende der IBM Deutschland, Walther Bösenberg, kurz zuvor in Sindelfingen gebaut hatte. „Die Amerikaner sagten: ,But the jets are landing in Frankfurt!‘ Bösenberg soll erwidert haben: ,But Stuttgart is also a very nice place‘“, erzählt Fasshauer. Der private Hausbau als Grund für die Ansiedlung einer Konzernzentrale? Das könnte Stoff sein für das nächste Theaterstück, das in der temporären Geisterstadt gespielt wird.