Leichtathletik-WM in Doha Ach, wie schön war’s einst in Stuttgart!
Mörderhitze, leeres Stadion, enttäuschte Athleten: Bei der Leichtathletik-WM in Doha läuft so ziemlich alles schief, was schief laufen kann. Grundlegend anders war es 1993 in Stuttgart. Wir erinnern an eine sagenhafte Weltmeisterschaft im Gottlieb-Daimler-Stadion.
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Das Stuttgarter Stadion – einst das „Wimbledon der Leichtathletik“.
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In jener Zeit ist Stuttgart eine Sportmetropole, in der das Herz neben dem Fußball vor allem für die Leichtathletik schlägt. Sie hat in der Landeshauptstadt eine jahrzehntelange Tradition. Bereits seit den 60er-Jahren gab es im Neckarstadion Länderkämpfe, Meetings und Meisterschaften, zu denen die weltbesten Athleten in die Stadt kamen; 1986 folgte eine begeisternde Europameisterschaft. Der Höhepunkt: die WM 1993, die vierte in der Geschichte, die erste in Deutschland, auf die sich die ganze Region freut. Am 13. August 1993 wird sie durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eröffnet. Das Neckarstadion heißt mittlerweile Gottlieb-Daimler-Stadion.
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1689 Athleten aus 187 Ländern reisen an, beziehen in der kurz zuvor geräumten Kaserne Nellingen Barracks in Ostfildern ihr Quartier – und werden von den Zuschauern begeistert empfangen. Das Stadion ist fast jeden Tag voll. Am Ende werden es an acht Wettkampftagen insgesamt 585 000 Zuschauern sein – die höchste je erreichte Zuschauerzahl bei Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Nicht eingerechnet die tausende Fans, die bei den Marathonläufen an der Strecke jubeln. Sie führt durch die Stadtteile Untertürkheim, Bad Cannstatt, Hofen, Mühlhausen und Münster; die blaue Linie ist teilweise noch heute erkennbar.
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Die Weitspringerin Heike Drechsler, die 1986 in Stuttgart auch Europameisterin geworden war, gewinnt mit einer Weite von 7,11 Meter am dritten Wettkampftag die erste Goldmedaille für das deutsche Team. Der Jubel im Stadion ist grenzenlos.
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Zwei Tage später lässt sich der zweite deutsche Weltmeister vom Publikum feiern – Diskuswerfer Lars Riedel (links), der mit 67,72 Metern die Goldmedaille gewinnt. Und nicht nur das: Jürgen Schult holt zudem Bronze. Neben den beiden WM-Titeln gewinnen deutsche Athleten zwei Silber und vier Bronzemedaillen, was im Medaillenspiegel Rang sechs bedeutet. Ganz vorne: die USA (13/7/5) vor China (4/2/2) und Russland (3/8/5).
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Doch sind es in Stuttgart nicht nur die deutschen Athleten, die frenetisch gefeiert werden. Es ist das Hauptmerkmal dieser WM, dass allen Teilnehmern die gleiche Begeisterung entgegenschlägt, egal ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß, schnell oder langsam. Besonders schnell ist die 4x400-Meter-Staffel der USA, die in 2:54,29 Minuten einen von insgesamt vier Weltrekorden aufstellt.
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Schneller als jeder vor ihm gelaufene Mensch ist auch der Brite Colin Jackson (rechts), der über 110 Meter Hürden in 12,91 Sekunden triumphiert. Der neben ihm laufende Florian Schwarthoff wird starker Fünfter – drei Jahre später gewinnt der Dortmunder in Atlanta sogar die olympische Bronzemedaille.
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An Dramatik nicht zu überbieten ist das 100-Meter-Finale der Frauen: Die Jamaikanerin Merlene Ottey (vorne) und die Amerikanerin Gail Devers stürmen beide nach exakt 10,82 Sekunden ins Ziel. Doch sieht ein Zielrichter Devers vorne. Ottey muss sich mit Silber begnügen – und wird wie eine Weltmeisterin bejubelt. Sie avanciert zu einem der Publikumslieblinge – das ganze Stadion applaudiert drei Tage später im Stehen, als sich die Sprinterin aus der Karibik über 200 Meter die verdiente Goldmedaille sichert.
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Der ganz große Publikumsliebling ist ein anderer: Der erst 22 Jahre alte Zehnkämpfer Paul Meier aus Velbert (links), der gegen den britischen Weltrekordler Dan O’Brian und die anderen Größen seiner Disziplin einen heroischen Kampf liefert. Mit letzter Kraft schleppt sich Meier im abschließenden 1500-Meter-Lauf ins Ziel, ist hinter O’Brian und dem Finnen Eduard Hämäläinen mit 8548 Punkten Drittbester – und wird minutenlang gefeiert. Selten ist ein Bronzemedaillengewinner so euphorisch bejubelt worden wie in Stuttgart.
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Das Bad in der Menge genießt auch die deutsche 4x400-Meter-Staffel, die beim Weltrekord der Amerikaner die Bronzemedaille gewinnt. Das Stadion explodiert beinahe, als Schlussläufer Thomas Schönlebe zehn Hundertstelsekunden vor seinem Konkurrenten aus Frankreich ins Ziel kommt. „Es war für mich der emotionalste Moment meiner Karriere“, sagt viele Jahre später der Berliner Karsten Just, der an Position zwei gelaufen war: „Wie alle anderen habe ich die Ehrenrunde von damals tief in meinem Innern gespeichert.“ Es ist der letzte von 44 Wettbewerben – ein furioser Abschluss.
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Ein letztes Mal schwappt bei der Abschlussfeier La Ola durchs prall gefüllte Stadion. Sie ist zum Markenzeichen dieser WM geworden. Jeden Tag aufs neue hat es die Besucher von ihren Sitzen gerissen bei diesen friedlichen, fröhlichen und freudigen Festspielen des Sports.
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Die Athleten aus aller Welt sind hingerissen von den deutschen Leichtathletikfans. Seinem Dank verleiht zum Abschluss nicht nur das deutsche Team Ausdruck – sondern auch die Unesco: Für „das große Zuschauerinteresse, die Fachkunde und Begeisterung des Publikums“ werden die knapp 600 000 Besucher dieser Weltmeisterschaften mit dem Fairplay-Preis geehrt.
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Knapp 15 Jahre später, am 8. Mai 2008, wird das Ende die großen Leichtathletik-Tradition in Stuttgart beschlossen. Der Gemeinderat folgt dem Vorschlag von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und stimmt für den Entfall der Tartanbahn und den Umbau des Stadions in eine reine Fußballarena. Der Protest der Leichtathletikverbände bleibt wirkungslos.
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Der offizielle Bagerbiss erfolgt ein Jahr später, am 18. Mai 2009. VfB-Präsident Erwin Staudt (links) hatte sich jahrelang vehement für den Umbau eingesetzt – und in OB Wolfgang Schuster den entscheidenden Befürworter gefunden. Seither regiert allein der Fußball. Das Einzige, was den Leichtathletikfreunden bleibt, ist die schöne Erinnerung an früher.