Gunter Demnig war in der Stadt und hat an fünf Orten zehn weitere Stolpersteine verlegt, umrahmt von eindrucksvollen Zeremonien. Inzwischen erinnern in Stuttgart mehr als 1000 Stolpersteine an Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Gunter Demnig ist ein unermüdlicher Erinnerungsarbeiter. Auch in ganz praktischem Sinne. Der Kölner Künstler ist mit einem kleinen Lieferwagen unterwegs. Darin liegen aufgereiht Dutzende neue, goldfarben blinkende Stolpersteine, die er bei seiner aktuellen Tour durch den Südwesten verlegen wird. Daneben der Eimer mit dem Beton und ein weiterer mit Wasser, Knieschützer und ein Gummihammer. Das braucht es, um die Stolpersteine im Trottoir zu verankern. Demnig geht es um ein stabiles Erinnern.

 

Für Stuttgart hat der 76-Jährige an diesem Donnerstag zehn Stolpersteine dabei. Ein elfter wird im Juni verlegt. Das sind elf Biografien, elf Schicksale, elf Menschen, die Opfer des Nazi-Regimes geworden sind, und an die nun mit kleinen quadratischen Messingtafeln erinnert wird. „Stein für Stein Menschen ihren Namen wiedergeben“, so lautet das Anliegen der 14 Stuttgarter Stolpersteininitiativen, die – koordiniert von Werner Schmidt und Ute Hechtfischer – über alle Stadtbezirke hinweg ein enges Netzwerk der Erinnerung mit jetzt mehr als 1000 Stolpersteinen bilden.

Gunter Demnig mit seinem Wagen voller neuer Stolpersteine Foto: Jan Sellner

Für diesen Tag stehen fünf Stationen an. Die erste liegt in der Leo-Vetter-Straße in Ostheim. Eine kleine Gruppe Interessierter und Engagierter versammelt sich dort am Morgen, um an den jungen Deserteur Karl Klett (Jahrgang 1923) zu erinnern, der als eines von sieben Kindern des Maurers Karl Klett und seine Frau Pauline in einer Wohnung in der Hausnummer 1 aufwuchs. Die Siedlung stammt aus den 1930er Jahren. Eine Skulptur am Eingang idealisiert das Bild der fürsorgenden, kinderreichen Mutter.

Die Eltern sollten die Kosten für die Hinrichtung tragen

Auf dem Balkon der Wohnung, in der die Kletts lebten, steht eine ältere Dame und lauscht der kleinen Zeremonie, bei der Reden gehalten, Gedichte vorgetragen und Akkordeon gespielt wird. Gudrun Greht von der Stolpersteininitiative Ost hat das Schicksal Karl Kletts recherchiert und diesen Stolperstein angeregt. Die Zuhörer erfahren, dass der junge Maschinenschlosser zur Wehrmacht eingezogen wurde. Dass ein Bruder fiel. Dass er selbst verwundet und, angewidert vom Krieg, nicht mehr an die Front zurückkehrte. Karl Klett wurde in Wien verhaftet, am 8. April 1944 wegen „Fahnenflucht“ verurteilt und am selben Tag erschossen. Er war 21 Jahre jung. Die Kosten für die Hinrichtung und die Bestattung wurden seinen Eltern in Rechnung gestellt – selbst der Posten „Verschrauben des Sarges“.

Gudrun Greth von der Stolperstein-Initiative Ost Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Seine Mutter hatte schon zuvor ein Martyrium erlitten. Nach der Flucht ihres Sohnes hielt die Gestapo sie sechseinhalb Monate im Hotel Silber fest, wo sie misshandelt wurde. Ein Foto von Karl Klett existiert nicht. Dafür die von den Stolperstein-Initiative gepflegte Erinnerung an einen „einfachen Menschen, den man nicht hat sein lassen“, wie Gudrun Greth sagt. Sie zitiert Kurt Tucholsky mit dem Satz: „Hier lebte ein Mann, der sich geweigert hat, auf seine Mitmenschen zu schießen. Ehre seinem Andenken.“

Paul Russmann von „Ohne Rüstung leben“ nimmt die Stolpersteinverlegung zum Anlass, die Stadt an einen Gemeinderatsbeschluss von 2017 zu erinnern. Darin wird einer Verlegung des von dem Bildhauer Nikolaus Kernbach geschaffenen und aus Spenden finanzierten Deserteurs-Denkmals vom Theaterhaus in die Nähe des Hotels Silber zugestimmt: „Wir sollten dieses Denkmal jetzt in die Stadtmitte holen“, fordert er.

Eine besondere Geschichtsstunde für Schüler

Dort, in der Stadtmitte, verlegt Demnig an diesem Tag gleich sieben Stolpersteine. Sechs davon in der Uhlandstraße 14. Sie erinnern an die jüdischen Familien Falk und Rosenstein/Süss-Schülein, die dem Verfolgungsdruck nicht entkamen. Frieda Süss-Schülein nahm sich das Leben. Die anderen fünf – Isak Falk, Johanna Falk, ihre Kinder Fritz Falk und Carry Falk sowie Meier Rosenstein – wurden deportiert und getötet. Susanne Bouché von der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Nord und Klaus Maier-Rubner von der Göppinger Stolperstein-Initiative haben die Lebens- und Leidenswege nachgezeichnet. Bei der Verlegung sind auch Schüler der American High-School mit dabei; sie haben zwei der jeweils 120 Euro teuren Steine gespendet. Dazu eine achte Klasse aus der Waldorfschule im Kräherwald. Sie erleben eine besondere Geschichtsstunde.

Ein Dreijähriger, ermordet in der „Kinderfachabteilung“

Eindrucksvoll gestaltet sich auch die Ehrung für Rolf Hugel in der Hauptstätterstraße 54, einem Dreijährigen, bei dem „Idiotie“ diagnostiziert worden war. In der Familie hieß es, „das Rolfle war a bissle langsam, aber koi Dubbele“. Tatsache ist, dass der kleine Rolf in die Fänge einer NS-gesteuerten „Kinderfachabteilung“ im Rheinland geriet und dort am 6. März 1943 ermordet wurde. Ein Schicksal, das Karl-Horst Marquart von der Stolperstein-Initiative Vaihingen nachgezeichnet hat. 39 derartige Fälle sind ihm allein aus Stuttgart bekannt.

Rolf Hugel, „das Rolfle“, wurde nur drei Jahre alt. Foto: Jan Sellner

Das „Rolfle“, das auf Initiative seiner Nichte Marilyn Breaux aus Texas an diesem Tag einen Gedenkstein vor einem schmucklosen 80er-Jahre-Bau erhält, ward nie vergessen. Sein zwei Jahre älterer Bruder Dieter, der 1958 nach Amerika auswanderte und 2020 verstarb, habe zeitlebens von ihm gesprochen. Der kleine Rolf sei immer präsent gewesen, erzählt Gabi Wolf, Tochter des ausgewanderten Dieter Hugel, die mit ihrem Mann Stephan aus Remseck zu der Stolpersteinverlegung gekommen ist. Ihre 28-jährige Tochter Anna-Lisa ist besonders ergriffen. Für sie alle und für das Ehepaar Helga und Rolf Gaiser – Freunde der Familie – „schließt sich mit der Verlegung des Steins ein Kreis“. Sie haben jetzt eine „handfeste Erinnerung“, wie sie sagen.

Die Stolpersteine und die kleinen Zeremonien lassen die Profile der Menschen hervortreten, denen damit gedacht wird – auch bei Johanna Schwersenz ist das so, einer Jüdin, die in der Frühlingshalde 10 in Stuttgart-Nord wohnte und 1942 von den Nazis ermordet wurde. Ebenso bei Anatol Bondorenko, einem Zwangsarbeiterkind, geboren im Lager Heßbrühl, das dort im Alter von zwei Jahren an Unterversorgung starb. An ihn erinnert ein Stolperstein vor dem Regierungspräsidium in der Ruppmannstraße, wo bereits zwei Steine liegen, die ehemaligen Zwangsarbeitern gewidmet sind.

Der Regierungspräsidentin Susanne Bay ist es wichtig, bei der Gedenkstunde dabei zu sein. Bei ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren sei sie förmlich über die Steine gestolpert, sagt sie. Das ist ganz im Sinne Demnigs. Wie bei jeder Stolperstein-Verlegung seit dem Beginn 1996 geht er auch hier in die Knie – schon rein arbeitsbedingt. Aber auch in Gedanken. Die Schicksale der Menschen sind für ihn Antrieb, weiterzumachen.

Stolperstein-Serie

Erinnerungsprojekt
Im Rahmen einer Serie erinnert unsere Zeitung in diesem Jahr an die Menschen hinter den Namen, denen in Stuttgart ein Stolperstein gewidmet ist. Informationen von der Stuttgarter Initiative gibt es im Internet unter https://www.stolpersteine-stuttgart.de

Podcast
Anlässlich der Stolperstein-Verlegung für Karl Klett ist am 16. Mai der Podcast Gedenkworte zu Karl Klett in Kooperation mit der Akademie für gesprochenes Wort in Stuttgart erschienen. red