Nach 37 Jahren als Gymnasiallehrer nimmt Jürgen Hestler von seinem Beruf Abschied. Im Interview spricht er über die Themen, welche den heutigen Schulalltag bestimmen.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)
Backnang - Seit 1978 hat Jürgen Hestler am Murrhardter Heinrich-von-Zügel-Gymnasium als Politik-, Geschichts- und Erdkundelehrer gearbeitete. Jetzt ist Schluss. Der Pädagoge muss in den Ruhestand. Andere Gymnasiallehrer sehnen die Pension herbei – Hestler indes würde gerne bleiben. Das geht mit 65 Jahren aber nicht. Hestler bleibt Kreisvorsitzender der SPD, und er wird sich auch künftig zu Wort melden – nicht nur zur Schulpolitik. Ein Gespräch über Engagement, und Demokratie, über Lehrer, Schüler und Eltern.
Herr Hestler, was tun Sie nur am ersten Schultag?
Ich werde wohl die Stuttgarter Zeitung etwas ausführlicher lesen, weil ich mehr Zeit habe. Und ich werde sie anders lesen – bislang habe ich immer geschaut, welche Texte ich im Unterricht verwenden kann. Ich werde wohl mit zwei weinenden Augen gen Murrhardt blicken und mir überlegen, was die jetzt wohl machen. Mit einem interessanten Zeitungsbericht werde ich dann aber darüber hinweg kommen.
Das freut uns schon mal. Viele Ihrer Kollegen scheiden deutlich früher aus dem Arbeitsleben aus. Warum hätten Sie gerne noch ein paar Jahre dran gehängt?
Ich hätte gerne weiter gemacht. Ich hatte eine Mission, ich war Überzeugungstäter. Ich wollte schon immer jungen Menschen etwas beibringen und Demokratie vermitteln. Ich habe immer Schüler unterrichtet, nie Fächer.
Man hört, dass pensionierte Lehrer zurück gebeten werden, weil Kollegen fehlen.
Wenn ich Physik unterrichten würde, dann wäre das bestimmt so.
Nie ein Burn-out gehabt? Oder keine Lust?
Ich habe gehört von Burn-out, das ist bestimmt eine ernsthafte Krankheit. Aber für mich ist das gar nicht vorstellbar. Ich war nie krank – außer zweimal die Achillessehne gerissen. Ich bin immer mit Freude in die Schule gegangen.
Was werden Sie am meisten vermissen?
Den Umgang mit jungen Menschen.
Was wird Ihnen eher nicht fehlen?
Das Korrigieren von Klassenarbeiten.
Eltern beklagen sich über die Arbeitseinstellung vieler Lehrer – zu recht?
Ich kann nur über das Gymnasium urteilen. Wir haben ein Problem: die aller meisten Kollegen sehen sich nur als Fachlehrer, sie unterrichten nur ihr Fach. Mir war es wichtiger, Persönlichkeiten sich entwickeln zu lassen. Lehrer müssen Freiräume bieten und die Schüler machen lassen. Das sollte man den Lehrerkollegen ins Hausaufgabenheft schreiben: Achtet auf die ganzheitliche Erziehung.
Was muss sich ändern?.
Die Einstellung der Lehrer ist sicherlich entscheidend. Fehler, die Schüler machen – auch im Verhalten –, die muss man am nächsten Tag vergessen. Ein Lehrer sollte nicht nachtragend sein. Man muss Kinder lieben und die Fächer in den Hintergrund stellen.
Eltern sind kein Problem?
Eher in der Grundschule, es gibt ja diese Helikoptereltern. Ich hab das aber nie erlebt, ich habe ab Klasse sieben unterrichtet. Die Eltern kümmern sich da zunehmend weniger, was auch gar nicht so schlecht ist.
Die Schüler?
Die waren früher jedenfalls auch nicht williger oder besser.
Das Schulsystem? Was hält der Gymnasiallehrer Hestler von der neuen Gemeinschaftsschule? Ihr Philologenverband kritisiert die neue Schulform ja oft und gerne.
Im Philologenverband bin ich nicht Mitglied, ich bin in der GEW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Der Philologenverband, diese reine Standesvertretung der Gymnasiallehrer, verteidigt ihr Gymnasium. Auch als Gewerkschafter habe ich das Ziel, junge Menschen so zu entwickeln, dass alle die gleichen Chancen haben. Ich nenne meine Traumschule die FKK-Schule.
Wie sieht die aus?
FKK, das steht für Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie für Kompetenzen und Können. Können ist aber viel mehr als Wissen. Schüler sollten exemplarisch lernen und das Erlernte übertragen können. Ich habe nie Fakten unterrichtet und nie ein Lehrbuch verwendet. In meinen Fächern geht das, in Englisch vielleicht nicht. Schüler müssen lernen, aus dem Wust an Informationen, die man heute hat, das herauszuholen, was wichtig ist. Und das hat sehr viel mit der Gemeinschaftschulidee zu tun.
Der Weg in Richtung Gemeinschaftsschule ist also richtig?
Ja, plus Gymnasium. Ein zweistufiges Schulsystem ist richtig, sonst fehlt die Eliteförderung, die auch sein muss.
Es gibt aber massive Kritik an den Gemeinschaftsschulen.
Die Kritik, die geäußert wird, die kann man auf jede andere Schulart übertragen. Dass es Probleme mit der Inklusion gibt zum Beispiel. Ich bin auch gar kein großer Freund der Inklusion. Die Inklusion geistig behinderter Schüler halte ich für nicht leistbar, auch nicht für sinnvoll.
Für Sie war der Beruf immer auch Berufung. Wie kam das?
Ich wollte immer Geschichtslehrer werden. Als Schüler endete am meinem Gymnasium der Geschichtsunterricht nach dem Ersten Weltkrieg. Wir haben in der Schule nichts vom Nationalsozialismus gehört. Später hatte ich Mitstudenten, die den Holocaust geleugnet haben. Ich hab vollends gewusst: Ich muss was tun.
Welches war Ihr wichtigstes Anliegen im Unterricht?
Jungen Leute Demokraten vermitteln. Demokratie kann man nicht im Lehrbuch lernen. Schüler sollen lernen, dass sie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen mittragen müssen. Deshalb war ich 37 Jahre lang Verbindungslehrer, ich wurde immer wieder gewählt von den Schülern.
Einige Ihrer Kritiker sagen sinngemäß: Beim Hestler wird immer nur diskutiert, er vernachlässigt das Fachwissen und verlangt zu wenig. Was sagen Sie?
Wann genau der Gang nach Canossa war, das ist völlig unwichtig. Daten kann man überall googeln. Aber es stimmt: meine Schüler wussten bestimmte Fakten nicht auswendig, aber sie wussten in kürzester Zeit wo man sie her bekommt. Bei sinnvollen Frage – zum Beispiel: wie entsteht Faschismus? – waren meine Schüler aber um Länger besser. Meine Schüler durften in den Arbeiten alle Aufschriebe und Bücher benutzen – auf einmal waren die Unterlagen geordnet. Ich behaupte: meine Schüler sind besser auf die Welt vorbereitet. Und bei den zentralen Abiturprüfungen waren meine Schüler auch immer besser als im Landesschnitt, und im Mündlichen phänomenal.
Phänomenal, ein gutes Stichwort. Sie hatten immer einen besonders guten Draht zu den Schülern, in Ihrem Abschlusszeugnis, das die Schüler geschrieben haben, steht: Engagement – phänomenal. Manch ein Kollege fragt sich bestimmt: Wie hat der Hestler das nur hinbekommen? Haben Sie da vielleichteinige Tipps?
Ein Lehrer muss das, was er vermitteln will, auch vorleben. Ich kann doch nicht sagen: mischt Euch ein, engagiert Euch – und mich dann völlig raus halten und nur RTL 2 gucken. Ich hab mich auch nie inhaltlich raus gehalten. Ich hab immer gesagt: es gibt die und die Position, meine ist diese. Das war nie SPD-bezogen sondern ethisch-moralisch. Ich bin auch ein bisschen stolz, ich habe viele Briefe von Schülern bekommen, fast Liebesbriefe. Einer dieser Schüler ist der jetzige CDU-Vorsitzenden von Murrhardt, Georg Devrikis. Der Mann hat kürzlich bei einer CDU-Veranstaltung sagt: „Ich habe beim Lehrer Hestler alles gelernt, was man als demokratischer Politiker können muss.“ Das tut gut.
Was bleibt? Wie füllt der Pädagoge Jürgen Hestler denn nun seine Tage ohne die Schüler und ohne das Murrhardter Zügel-Gymnasium?
Meine Frau hat ein bisschen Angst, was jetzt mit mir passiert. Sie hat mich dringend gebeten, unser Haus zu renovieren.
Das ist irgendwann aber mal erledigt.
Ich werde bei meinem Lieblingskind BBO, die Berufs- und Betriebsorientierung am Zügel-Gymnasium, noch ein bisschen mithelfen. Bis der Nachfolger eingearbeitet ist. Ein Auslaufmodell, ich weiß . Ich bin als Parteischef gefordert im Landtagswahlkampf 2016. Und der Rote Stuhl bleibt – eine Veranstaltungsreihe der örtlichen SPD.
Gibt es auch neue Ideen?
Ich werde mich wohl im Heimatverein engagieren, ich möchte Köpfe aus dem Weissacher Tal interviewen. Aber das ist Arbeit mit älteren Menschen. Ich suche noch etwas, wo ich weiter jungen Menschen Demokratie beibringen kann. Wenn es nur nach mir ginge, dann würde ich am ersten Schultag wieder am Murrhardter Gymnasium unterrichten.