Der Kreis schließt sich: 41 Jahre nach der Stunde null des ersten Bundesligaabstiegs ist der VfB Stuttgart zurück in der Hölle. Der Untergang des fünfmaligen deutschen Meisters ist hausgemacht – und nahm nach dem letzten Titel 2007 Fahrt auf.

Stuttgart - Als Bernd Wahler in der Abstiegsnacht nach Hause kam, war das einer jener Momente, für die Udo Jürgens seinen Song gegen das Dunkel der Traurigkeit komponiert hat: „Im Kühlschrank brennt noch Licht“.

 

Ein Abstieg macht einsam.

„Vorstand raus!“, brüllte der VfB-Volkszorn wochenlang, mit geschwollenen Adern, enthemmten Fratzen und steifen Mittelfingern. Der Angeklagte hat die Verantwortung übernommen und ist jetzt gegangen – denn Wahler hat sich schuldig gemacht, indem er gegen den Grundsatz verstieß: Krisen meistert man am besten, wenn man ihnen zuvorkommt.

Der frühere Adidas-Topmanager und Sohn eines Remstäler Wengerters hat die Krise dagegen auf ihrem Höhepunkt übernommen. Ein vergiftetes Erbe hat er 2013 angetreten, und jetzt hält er den Kopf dafür hin, dass der Verein für Bewegungsspiele 1893 Stuttgart zum Verein für Bestattungen mutiert ist, auch die zweite Mannschaft ist abgestiegen. Für den Fan ist das zu viel, er meutert – und sein Gefühlselend wird noch dadurch verschlimmert, dass seine alten VfB-Lieblinge dieser Tage überall Meister wurden: Sami Khedira in Turin, Mario Gomez in Istanbul, Serdar Tasci beim FC Bayern.

Nachwuchstalent Kimmich

Dort haben auch Sven Ullreich und Joshua Kimmich am Samstag im Bier geduscht, und nicht minder feiert RB Leipzig, den der Alt-VfBler Ralf Rangnick mit vielen Ex-Cannstattern in die Bundesliga trainiert hat. Wer vor neun Jahren prophezeit hätte, dass die Sachsen den Platz des VfB einnehmen, wäre mit Blaulicht und Sirene in eine geschlossene Anstalt gefahren worden. Denn den neureichen Club des Red-Bull-Milliardärs Didi Mateschitz gab es damals noch gar nicht – während der VfB gerade deutscher Meister war, mit Gomez, Khedira und Tasci.

Vielleicht kann man diesen Niedergang am besten mit der Wut von Alexander Zorniger beschreiben. Bevor der als VfB-Trainer im Herbst gefeuert wurde, musste er gegen den FC Bayern den Zauber des jungen Kimmich ertragen und fluchte: „Man hätte ihn niemals ziehen lassen dürfen. Ich würde gern jeden erschlagen, der an dieser Entscheidung beteiligt war.“ Zorniger bekam danach Ärger mit Fredi Bobic, der ehemalige VfB-Sportdirektor fühlte sich offenbar angesprochen.

Kimmich, das Ausnahmetalent, ging vor drei Jahren, zunächst nach Leipzig, blitzschnell griff der dortige Trainermanager Rangnick zu. Seine ganze Zukunft hat der Stuttgarter Fußball an die Sachsen verloren, außer etlichen Talentspähern und Spielern den Cannstatter Nachwuchsstall mit Jugendleitern und Jugendtrainern. Wahler hat davon nichts verbockt, er war noch nicht da. Was er zu verantworten hat, ist die Personalie Robin Dutt – der sich jetzt als VfB-Sportdirektor gegen den Vorwurf wehren muss, beim Spielererwerb gelegentlich unbesehen eine Katze im Sack gekauft zu haben.

Der große MV dreht sich im Grab um

Der Altpräsident Gerhard Mayer-Vorfelder, so verlautet aus zuverlässiger Quelle, dreht sich angesichts der Ereignisse im Grab um. Er war der berühmteste aller VfB-Führer – auch wenn ihm anno 1999 gegen Ende seiner Amtszeit der Aufsichtsrat wegen kühner Transferpolitik und fahrlässiger Verschuldung des Clubs das Misstrauen aussprach, worauf der Getadelte lieber DFB-Präsident wurde.

Doch vorher war er der große MV. Vor allem hat er für die VfB-Amtsübernahme in der Krise den besten Moment erwischt: die Stunde null. Im Frühjahr 1975, unmittelbar vor dem ersten Abstieg, hat er als Mayer-Vorlaut und Mayer-Vorderlader in der „Nacht der langen Messer“ seinen Vorgänger Hans Weitpert weggeputscht – und als im Fallschirmjägerbataillon 251 in Calw gedrillter Reserveoffizier danach auch den Rat des Abstiegstrainers Albert Sing („Clubheim ausschwefeln, Eiterbeulen ausdrücken“) zackig umgesetzt.

Die erste Saison in der zweiten Liga ging in die Hose, aber dann stellte MV die alles entscheidende Frage an den damaligen Startrainer Hennes Weisweiler: „Weißt du mir einen jungen Hungrigen?“

Hennes half. Im Moulin Rouge, einem Spätlokal in Genf, wo Jürgen Sundermann zu der Zeit trainierte, haben sie im Frühjahr 1976 zusammen dessen Vertragsunterschrift begossen, und als der VfB-Geschäftsführer Ulrich Schäfer die Schampusrechnung sah, lotste er den Präsidenten Mayer-Vorfelder erschrocken aufs Klo und sagte: „Gerd, hosch du no Geld im Sack?“ Der VfB war arm wie eine Kirchenmaus.

Der Wundermann hat es gerichtet

Doch der Wundermann hat es gerichtet. Nach dem Wiederaufstieg kamen 56.000 Zuschauer im Schnitt, um die VfB-Rasselbande mit Hansi Müller, Karlheinz Förster und Dieter Hoeneß zu bejubeln. Sundermann: „Die Jungs wollten immer nur alles niedermachen, hemmungslos.“ Wie er. Manchmal lag er flach vor der Trainerbank und fraß das Gras, frisch von der Wurzel. Er stürmte mit, und Deutschland stritt sich damals, wer die größere Show ist, der Irrwisch Sundermann am Spielfeldrand – oder seine Monika in „Dalli Dalli“ als ZDF-Assistentin von Hänschen Rosenthal, der immer in die Luft sprang und rief: „Das war spitze!“

Der VfB war dann lange spitze, es ging zu wie in den mit zwei Meistertiteln und zwei Pokalsiegen gespickten 50er Jahren. Helmut Benthaus trainierte die Meister von 1984, mit Hermann Ohlicher, Asgeir Sigurvinsson, Karl Allgöwer und den Förster-Brüdern, unter Arie Haan führte der Weg ins Uefa-Cupfinale 1989, und Christoph Daum reüssierte 1992 mit Matthias Sammer, Guido Buchwald und dem Schützenkönig Fritz Walter („Wo isch mei Kanon?“). Der VfB war stolz auf Weltmeister wie Jürgen Klinsmann und Carlos Dunga, das magische Dreieck aus Elber, Bobic und Balakov holte den DFB-Pokal 1997 – und Mayer-Vorderlader zeigte sich noch mal stramm und setzte, trotz des Einzugs ins Europacupfinale 1998, seinen Jungtrainer Jogi Löw vor die Tür („Ich habe den nötigen Mut vermisst, die Entscheidungskraft“).

1999 holte MV dann noch Ralf Rangnick. Es war die Chance zur Nachhaltigkeit. Ein einheitliches VfB-Spielsystem führte der Kreativtrainer Rangnick ein, durchgängig von allen Jugendmannschaften bis zum Bundesligateam. Aber früh in der Amtszeit des neuen Präsidenten Manfred Haas, eines Ex-Chefs der Sparkassen-Versicherung, wurde der Visionär Rangnick in einer Krisenphase entsorgt. In der Not half dann vorübergehend wieder der berühmte VfB-Nachwuchsstall, der beste und erfolgreichste Deutschlands, und auf Sundermanns „Junge Wilde I“ folgten die „Jungen Wilden II“. Immer wenn das Geld fehlte, führte das zu den größten Erfolgen – diesmal fand Felix Magath notgedrungen die Talente Hildebrandt, Hinkel, Hleb und Kuranyi, Endstation Champions League.

Das Elend nahm nach 2007 Fahrt auf

Aus der nächsten Bredouille halfen 2007 die „Jungen Wilden III“, Gomez. Khedira und Tasci. Dazu hatte der neue Präsident Erwin Staudt in jenen Jahren Glück mit dem guten Auge des Ex-VfB-Profis Herbert Briem, der sich als Einkäufer mit dem Weltstarpaket Trapattoni, Tomasson und Gronkjaer zwar verhob, aber als Sportlicher Leiter und Scout hohe Meriten verdiente bei der Beschaffung von Teamstützen wie Stranzl, Hitzlsperger, Delpierre, Magnin, Babbel und den Mexikanern Pardo und Osorio. Als Briem den VfB dann verließ, schilderte er an einem guten Beispiel, was bei Transfers mitunter schieflief. „Finger weg!“, riet er nach eingehender Prüfung, als der VfB den verletzungsanfälligen Altstar Yildiray Bastürk im Auge hatte. Der Meistertrainer Armin Veh und der Manager Horst Heldt winkten ab, gaben Bastürk einen profitlichen Vierjahresvertrag, der machte eine Handvoll Spiele – und musste dann teuer abgefunden werden.

So nahm das Elend nach dem Meistertitel 2007 richtig Fahrt auf – waghalsige Personalentscheidungen führten zu einem wild zusammengewürfelten Mannschaftshaufen. Dieter Hundt, der Arbeitgeberpräsident und mächtige VfB-Aufsichtsratschef, brachte sich ins sportliche Tagesgeschäft auch immer öfter gefährlich ein, obwohl er bei bösen Zungen im Verdacht stand, dass er den Ball für sechseckig, innen hohl und außen aus Birkenholz hielt.

Erschwerend kam Gerd E. Mäuser als neuer Vereinschef dazu. „Als Fachmann“, sorgte sich der Ehrenpräsident Mayer-Vorfelder, „hat er sich meines Wissens bisher nicht profiliert.“ Mäuser war vorher Manager bei Porsche, aber Fußball wird nicht auf vier Rädern gespielt, und das Ventil am Ball ist kein Auspuff – jedenfalls rief die Fankurve schnell: „Mäuser raus!“ Außerdem galt er als zu sparsam – bald kursierte der Witz vom toten Schwaben, der sich nur bis zum Bauch beerdigen lässt, um hinterher das Grab selbst pflegen zu können.

VfB-Nachwuchsabteilung bröckelte

Für Kopfschütteln sorgte Mäuser, als er das „Konzept der Jungen Wilden“ predigte. In Wahrheit bröckelte die VfB-Nachwuchsabteilung auseinander. Die Väter der Cannstatter Jugendpflege, die VfB-Urgesteine Frieder Schrof und Thomas Albeck,, verabschiedeten sich nach Leipzig, und andere mit VfB-Herz folgten: Der Mediendirektor Oliver Schraft ging zum VfL Wolfsburg, der Finanzexperte Alexander Wehrle zum 1. FC Köln. Die Krise näherte sich der Endzeitstimmung.

2013 übernahm dann Bernd Wahler das Chaos. 97,4 Prozent bekam er bei der Wahl (der Rest war beim Pinkeln), und er versuchte, die Fehler rückgängig zu machen. Das Jugendzentrum wurde wieder forciert, und dann wollte er Rangnick zurückholen. Aber der winkte ab, er hat in Leipzig freie Hand, Brause-Didi lässt ihn machen. Leipzig ist keiner dieser Traditionsclubs, in denen Scharen von Ex-Nationalspielern, Ex-Funktionären und Ehrenpräsidenten die Weisheit mit Löffeln gefressen haben und vom Berg Sinai herunter ihre zehn VfB-Gebote verkünden. Wilhelm Busch hat es so gedichtet: „Der eine fährt Mist, der andere spazieren, das kann ja zu nichts Gutem führen.“

Wahler hat alles probiert. Er hat Schraft zurückgeholt, aber Wehrle sagte Nein wie Rangnick, auch die Rückholung des Alt-VfBlers und neuen Trainerstars Thomas Tuchel misslang, und letzten Herbst winkte der Schweizer Lucien Favre ab – der VfB hat sich als große Hausnummer disqualifiziert, er kriegt keinen mehr.

Das Einzige, was der VfB noch bekam, war der ständige Abstiegskampf. Aber als die Glücksjeans, in der Jürgen Kramny den VfB vorübergehend von Sieg zu Sieg trainiert hatte, plötzlich den Geist aufgab, war Wahler am Ende. Stunde null. 39 Jahre nach dem Wiederaufstieg schließt sich der Kreis. Vorletzten Samstag, nach dem 1:3 gegen Mainz, sagte im Presseraum des Stadions einer zu Jürgen Sundermann: „Wundermann, zieh dich noch mal um.“ Aber er ist inzwischen 76.