Die Ärzte im Land sind unzufrieden mit der Gesundheitspolitik. Deshalb gibt es diese Woche wieder Proteste. Eine Hausärztin aus Pforzheim und eine Assistenzärztin aus dem Klinikum Stuttgart erzählen, was sie am meisten ärgert – und warum sie ihren Beruf trotzdem wieder ergreifen würden.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Der Arztberuf – ein Kindheitstraum für viele. Und doch arbeiten ausgerechnet die, die andere Menschen heilen sollen, unter ungesunden Bedingungen: Wenig Schlaf, viele Stunden Arbeit und obendrein das Gefühl, den Anforderungen in der Klinik und in der Praxis nicht gerecht werden zu können. In Baden-Württemberg protestieren nun wieder niedergelassene Ärzte sowie ihre Kollegen aus Krankenhäusern gegen die Gesundheitspolitik. Wir haben mit der Assistenzärztin Mareike Schneider vom Klinikum Stuttgart und der Pforzheimer Allgemeinmedizinerin Nicola Buhlinger-Göpfarth über ihre Arbeit gesprochen. Letztere ist zugleich Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg.

 

Wie viel arbeiten Sie?

Buhlinger-Göpfahrt: Ich arbeite im Durchschnitt 52 Stunden pro Woche. Laut einer aktuellen Erhebung entspricht das etwa dem Mittelwert für Hausärzte. Ärzte auf dem Land arbeiten etwas länger – unter anderem weil sie mehr Hausbesuche machen. Zu meinem am weitesten entfernten Patienten bin ich mit dem Auto eine halbe Stunde unterwegs.

Die Assistenzärztin Mareike Schneider arbeitet bis zu elf Stunden am Tag – sowohl im OP als auch als Stationsärztin. Foto: Klinikum Stuttgar

Schneider: Ich arbeite bis zu elf Stunden am Tag – sowohl im Operationssaal als auch als Stationsärztin auf der Intermediate Care Station. So wird die Station zwischen Normalstation und Intensivstation genannt, in der Schwerkranke sowie Menschen nach einer komplexen Operation versorgt werden.

Wie verteilt sich Ihre Zeit auf die Arbeit mit Patienten und bürokratische Aufgaben?

Buhlinger-Göpfahrt: Die Bürokratie hat einen Anteil von 20 bis 30 Prozent. Das sind alle Arbeiten ohne Patientenkontakt. Dazu zählen zum Beispiel die Beantwortung von Anfragen oder die Dokumentation von Diagnosen und Behandlungen sowie der Besuch von Fortbildungen. Insgesamt hat der bürokratische Aufwand in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Schneider: Das ist unterschiedlich. Je nachdem, ob ich auf Station oder im OP oder in der Ambulanz eingeteilt bin, habe ich 50 bis 60 Prozent meiner Arbeitszeit direkt mit Patienten zu tun, weitere 40 bis 50 Prozent der Zeit nehmen bürokratische Aufgaben in Anspruch.

Wie viele Patienten bekommen Sie am Tag zu sehen?

Buhlinger-Göpfahrt: Das sind bei mir bis zu 30 am Tag. Im Durchschnitt haben wir Hausärzte rund fünf bis sechs Minuten Zeit für einen Patienten. Bei weniger komplexen Fällen muss es auch mal schneller gehen, damit mehr Zeit die betreuungsintensiveren Patienten bleibt.

Etwa sechs Minuten – mehr Zeit bleib Hausärzten wie Nicola Buhlinger-Göpfahrt nicht für ihre Patienten. Foto: Hausärzteverban

Schneider: Auch hier unterscheidet sich die Patientenanzahl sehr je nach Einsatzort. Im Durchschnitt sehe ich etwa 20 unterschiedliche Patienten pro Tag.

Was ist aus Ihrer Sicht die gravierendste Veränderung in den vergangenen Jahren?

Buhlinger-Göpfahrt: Angebot und Nachfrage klaffen zunehmend auseinander. Wir finden kaum noch Personal, und für viele Hausarztpraxen gibt es keine Nachfolger. Gleichzeitig steigt durch den demografischen Wandel die Zahl kranker Menschen. Das führt zu einem massiven Andrang auf die verbliebenen Praxen. Gereiztheit und Aggressivität bei den Patienten nehmen zu. Jeder, der anruft, meint, er wäre der Kränkste.

Schneider: Über die letzten Jahre ist die Anzahl der Kliniken stetig gesunken, damit natürlich auch die Anzahl der Krankenhausbetten. Gleichzeitig wird die Versorgung der Patienten durch eine immer älter werdende Bevölkerung und immer mehr medizinische Möglichkeiten komplexer und aufwendiger, bei einer verkürzten durchschnittlichen Verweildauer der Patienten. Es müssen also in kürzerer Zeit mehr Patienten behandelt werden.

Was ärgert Sie am meisten?

Buhlinger-Göpfahrt: Dass die Politik die Realität in den Hausarztpraxen aus den Augen verloren hat. Das sieht man zum Beispiel bei der geplanten Notdienstreform. Die sieht vor, dass Hausärzte noch mehr Notdienste in Krankenhäusern übernehmen sollen. Dadurch würde bei uns Hausärzten die Kapazität von 600 Praxen wegfallen. Was wir brauchen, ist eine grundlegende Reform der Notdienste. Wir Hausärzte können nicht die Löcher in einem maroden System stopfen.

Schneider: Die Arbeitsbelastung und der steigende bürokratische Anteil der Arbeit sind mittlerweile sehr hoch. So hat man trotz eines langen Arbeitstags mit Überstunden häufig das Gefühl, kaum Zeit für ausführliche Patienten- oder Angehörigengespräche zu haben.

Die Gesundheitskosten steigen weiter – wo könnte man sparen?

Buhlinger-Göpfahrt: Mit rund 300 Milliarden Euro steht eigentlich gar nicht so wenig Geld zur Verfügung, aber wir müssen die Ressourcen sinnvoller einsetzen. Dazu braucht es mehr Steuerung – und dabei spielen die Hausärzte eine entscheidende Rolle. Ein Beispiel dafür ist das Hausarztmodell, bei dem der Hausarzt die erste Anlaufstelle ist. Damit lassen sich viele unnötige Besuche bei Fachärzten vermeiden. Baden-Württemberg liegt hier bundesweit an der Spitze. Jeder vierte Patient nimmt am Hausarztmodell teil. Zudem könnten viele Routinetätigkeiten auch von qualifiziertem medizinischem Personal erledigt werden.

Schneider: Durch die fortschrittliche Medizin und die demografische Entwicklung werden unsere Patientinnen und Patienten immer älter und kränker. Natürlich steigen dadurch auch die Gesundheitsausgaben. Viel ungenutztes Potenzial liegt noch in der Prävention – damit Krankheiten erst gar nicht entstehen. Zudem kann auch die Digitalisierung bei Einsparungen helfen, wenn dadurch etwa Mitarbeitende entlastet werden. Die eigentliche Frage ist jedoch: Wollen wir wirklich an einem so hohen Gut wie der Gesundheit sparen, oder gibt es vielleicht andere Bereiche, in denen man eher sparen könnte?

Was wünschen Sie sich von der Gesundheitspolitik?

Buhlinger-Göpfahrt: Sie muss bei wesentlichen Strukturreformen die Hausärzte besser einbinden. Der Fokus liegt viel zu stark auf den Krankenhäusern. Wenn eine Klinik schließen soll, steht gleich der Landrat auf der Matte, wenn eine Hausarztpraxis schließt, wird das oft einfach hingenommen. Dass die Leistungen der Hausärzte oft übersehen werden, hat sich auch in der Coronapandemie gezeigt. Obwohl 95 Prozent der Covid-Patienten von Hausärzten betreut wurden, kamen im Fernsehen immer nur die Bilder von den vollen Intensivstationen.

Schneider: Die Beantwortung dieser Frage würde wohl den Rahmen des Interviews sprengen.

Würden Sie sich wieder für den Beruf der Hausärztin entscheiden?

Buhlinger-Göpfahrt: Für mich ist das nach wie vor der schönste Beruf der Welt. Ich finde es schade, dass immer weniger Menschen Hausarzt werden wollen. Es zeigt aber auch, dass die Rahmenbedingungen einfach nicht mehr stimmen.

Schneider: Seit ich denken kann wollte ich Ärztin werden. Trotz der hohen Arbeitsbelastung liebe ich meinen Beruf und kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Ich verstehe jedoch alle meine Kolleginnen und Kollegen, die insbesondere wenn Familiengründung ins Spiel kommt, kürzertreten oder sich umorientieren.