Die Zahl der älteren Menschen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, nimmt zu. Nicht selten versuchen die Betroffenen durch den Genuss des Suchtmittels Probleme wegzuspülen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Es ist schleichend gekommen, wie ein leichter Sog, der immer stärker wird. In Gesellschaft hatte Gretel Maurer (Name geändert) immer schon Alkohol getrunken, mal ein Glas Sekt nach dem Tennis mit den Freundinnen, aber auch bei anderen Anlässen, wie das so üblich ist und wie sie es im Elternhaus erlebt hatte. Dann kommt sie unter Druck: Erst muss sie die Mutter pflegen, die bald stirbt. Nicht lange darauf wird ihr Mann krank, das Ehepaar weiß nicht, ob er das Geschäft weiterführen kann. Und es gibt Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern, die ins Pflegeheim müssen. Schließlich gibt ihr Mann das Unternehmen auf, in dem sie mitgearbeitet und wo sie Bestätigung gefunden hat. „Alkohol wurde zu meiner Krücke“, sagt Gretel Maurer.

 

Die 65-jährige Bunkert Sekt und Wein in den Schränken

Ohnmacht, Existenzangst und sinkende Selbstachtung bestimmen das Lebensgefühl der jetzt 65-Jährigen. Sie bunkert Wein und Sekt in Schränken und in der Garage, dass es die Familie nicht merkt. Als ihre erwachsene Tochter sie zur Rede stellt, weil sie nach Alkohol riecht, streitet sie alles ab. „Ich hatte kein Krankheitsbewusstsein“, sagt sie heute. Erst als sie einen Autounfall hat, kann sie das Problem auch vor sich selbst nicht mehr leugnen: „Plötzlich habe ich gemerkt, ich bin alkoholabhängig“, erinnert sich Gretel Maurer.

„Dieser Verlauf ist typisch“, sagt Hans-Peter Medwed über die Krankengeschichte. „Die Patienten schlittern langsam rein in die Sucht, und dafür gibt es meistens mehrere Auslöser“, erklärt der Oberarzt und Leiter der Suchtambulanz im Zentrum für seelische Gesundheit Bad Cannstatt. Älterwerden bringt viele Verlusterfahrungen mit sich: den Abschied von der Erwerbstätigkeit, den Tod von Angehörigen und Freunden, nicht selten Vereinsamung und Krankheit. „Da kommt oft viel zusammen“, sagt Psychiater Medwed.

In Bürgerumfrage das Trinkverhalten abgefragt

Da greifen viele wie Gretel Maurer zur Krücke Alkohol. Um darüber Auskunft zu erhalten, hat das Statistische Amt der Landeshauptstadt in der Bürgerumfrage 2011 auch Fragen zum Alkoholkonsum gestellt, genauer gesagt: zum „riskanten“ Alkoholkonsum, der als gesundheitsgefährdend gilt (dazu die nebenstehende Grafik). Das Ergebnis: etwa 30 Prozent der Männer in Stuttgart, die 65 Jahre und älter sind, pflegen einen solchen riskanten Alkoholkonsum, und 18 Prozent der Frauen. Auf der Grundlage der Ende 2012 registrierten Einwohnerzahl mit 108 000 Bürgerinnen und Bürgern über 65 hat die Stadt hochgerechnet, dass circa 24 500 Personen ein gesundheitsgefährdendes Trinkverhalten haben, 13 650 Männer, 10 850 Frauen.

Die Gruppe der betagten Süchtigen wird größer

Und es werden mehr. „Diese Gruppe wird größer“, sagt Suchthilfeplanerin Elisabeth Dongus vom Gesundheitsamt. Das kann Hans-Peter Medwed bestätigen: „Es kommen mehr ältere Patienten zu uns.“ Dabei vermag der Suchtmediziner nicht zu sagen, ob das Problem oder einfach nur der gesellschaftliche Anteil dieser Altersgruppe größer wird. Vermutlich beides. So verweist das Gesundheitsamt darauf, dass nicht nur die älter werdende Gesellschaft ein Grund ist für die Zunahme von Betroffenen sei, sondern auch deren „Konsumgewohnheiten in jüngeren Jahren“. Die sogenannten Babyboomer, die bis Mitte der 60er Jahre geboren wurden und inzwischen ins Rentenalter kommen, gingen lässiger mit Alkohol um als frühere Generationen, Gleiches gilt für illegale Rauschmittel. Dazu passt, dass unter den Senioren, die in die Suchtambulanz von Oberarzt Medwed kommen, inzwischen auch Alkoholiker „mit Beikonsum Cannabis“ sind.

Stadt veranstaltet am 15. Oktober einen Gesundheitstag

Weil dies so ist, veranstaltet die Stadt am 15. Oktober einen Gesundheitstag mit Schwerpunkt Alkohol im Alter. Dabei solle den älteren Menschen nicht „das Gläsle Genusstrinken“ madig gemacht werden, sagt Gesundheitsplanerin Regina Braun. Angesichts heute längerer Lebenszeiten könnten viele Senioren aber nur gesund im Alter bleiben, wenn sie ihr Trinkverhalten änderten. Sonst steigt das Risiko von Stürzen und von Folgeerkrankungen.

Ein Verkehrsunfall verändert die Einstellung zum Alkohol

Dass es oft Hilfe von außen braucht, wenn man eingefleischte Konsummuster ändern will, zeigt das Beispiel Gretel Maurer. Als ihre Hausärztin sie auf ihre schlechten Leberwerte anspricht und ein Psychiater eine Depression diagnostiziert, geht sie in Kur. Von einer Alkoholerkrankung will sie aber nichts wissen. Wenige Wochen danach trinkt sie wieder. Erst der Verkehrsunfall ändert ihre Einstellung. Gretel Maurer macht eine achtwöchige Therapie im Wendepunkt des Bürgerhospitals. Nach zwei Monaten greift sie wieder zur Flasche. „Alleine schafft’s kaum jemand, geradlinige Verläufe sind die Ausnahme“, sagt Suchtmediziner Hans-Peter Medwed. Erst eine weitere Behandlung bringt Gretel Maurer Besserung. Sie macht wieder Sport, besucht einen Selbsthilfekreis und eine Gruppe betroffener Frauen. „Das ist als Unterstützung sehr wichtig“, sagt die 65-Jährige.

Ihre Familie ist froh, dass sie wieder die Alte ist. Auch dem einen oder anderen im Bekanntenkreis hat sie ihre Suchtgeschichte inzwischen erzählt. Unter diesen, hat Gretel Maurer festgestellt, gebe es einige „Gewohnheitstrinker“, die sich am Abend ein paar Gläschen genehmigen.