Ein Irrwisch lässt den Freudenpegel steigen: Anne Weber erzählt in ihrem für den Leipzigerbuchpreis nominierten Roman „Kirio“ eine moderne Heiligenlegende.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Dieser Kirio ist eindeutig eine Kopfgeburt. Und diese Erkenntnis könnte etwas Abschreckendes haben. Denn auf literarischem Gebiet bezeichnet man damit Schöpfungen, die sich von ihrem Erzeuger nicht abgenabelt haben, und im Leben keinen Halt finden – zumindest in dem Leben, das der Leser mit ihnen teilen könnte. Aber wie falsch wäre es, sich nicht den Kopf verdrehen zu lassen von dem Hirngespinst, das Anne Weber in ihrem für den Leipziger Buchpreis nominierten Roman „Kirio“ vor aller Augen herbeifantasiert; denn frecher wurden die Autorenvollmachten wohl selten aufs Spiel gesetzt, und vermutlich noch seltener mit größerem Gewinn.

 

Doch nun müsste man diese euphorischen Vorschusslorbeeren natürlich einlösen und endlich erzählen, was Sache ist. Genau das aber ist gar nicht so einfach. Denn dieses Buch hat so viele Erzähler. Da ist etwa Monsieur Beauchamp, der Lateinlehrer Kirios, der für eine kurze Zeit sein Ruhestandsrennrad beiseite stellt und sich zurückerinnert an die Zeit, als der merkwürdige Romanheld vorzugsweise auf den Händen laufend seinen Unterricht verfolgte. Eine andere Erzählerin klemmt gerade Wäsche auf die Leine und zeigt dabei die Arme, in denen Kirio die Liebe lernte. Dann ein gewisser Duval, der berichtet, wie dieser Irrwisch überall, wo er aufkreuzte, den Freudenpegel um mehrere Grade angehoben hat. Selbst der Winter, der ein Sommer wird, hat etwas zu sagen, und kündet von Kirios Gabe, überall das Gute zu verbreiten, Morde, Selbstmorde und Attentate zu verhindern. Man muss schon ungeheuer schlechte Laune haben, um daran Anstoß zu nehmen, wie der leicht verwachsene Beck mit seiner maßlosen Wut über die eigene Unvollkommenheit. Oder allergisch gegen Wunder sein. Denn was diese versammelten Zeugen zusammentragen, fügt sich zu einer modernen Heiligenlegende.

Selbst die Todesbeamtin ist machtlos

Wie vom Goldgrund mittelalterlicher Andachtsbilder strahlen Kirios ahnungslose Rettungstaten in die französischen Alltagsräume hinein, die zugleich die Erfahrungsräume der in Offenbach geborenen und in Paris lebenden Anne Weber sind. Sie zu nennen, hätte man über die vielen, die hier das Wort ergreifen, beinahe vergessen. Dabei ist das die alles entscheidende Frage, mit der alles beginnt: „Wer bin ich?“ – eine Frage, die sich an den detektivischen Spürsinn des Lesers richtet und auf die einfach mit Anne Weber zu antworten wirklich nur die einfallsloseste Lösung wäre.

Jeder Heilige braucht eine höhere Instanz, von der aus ihm seine Kraft zufällt. Bei Kirio ist das der Geist der Erzählung. Er schützt ihn am Ende vor der Macht der leicht hessisch babbelnden Todesbeamtin Frau Kehm, die mit ihrer jahrtausendelangen Berufserfahrung und bürokratischen Unerbittlichkeit Unfälle und Krankheiten arrangiert. Der Geist der Erzählung wirkt in der Sprache und schwebt über der Wirklichkeit, er verhindert, dass diese in ihrer Dürftigkeit das letzte Wort behält: „Die Wirklichkeit ist sprachlos, sie kann nur da sein oder sich bestenfalls ereignen, andere Ausdrucksformen sind ihr unbekannt.“

Nicht aber der Erzählerin, wer immer sie sei. Die Ausdrucksformen ihres Tagtraums bergen eine kleine Theologie der Literatur. Wie es sich für Legenden gehört, verwandelt sich der komplizierte Verkehr von Oben und Unten, Himmel und Erde in einfache Anschauung. Leichter, lichter kann man zu den Schöpfungsgeheimnissen des Schreibens kaum bekehrt werden.