Die Filmfestspiele beginnen verheißungsvoll. Wes Anderson zeigt im mit Kinoprominenz belegten „Grand Budapest Hotel“ schöne Bilder einer vergangenen Epoche, Edward Berger in seinem Drama „Jack“ den traurigen Alltag in der deutschen Hauptstadt.

Berlin - Für den Eröffnungsfilm der Berlinale gibt es keine Regeln, außer vielleicht, dass der rote Teppich an diesem ersten Abend möglichst nicht ausschließlich von aufstrebenden Stars des tscherkessischen Kunstfilms bevölkert sein sollte. Das hat zu Beginn dieser 64. Internationalen Filmfestspiele schon mal geklappt. Die Stars aus Wes Andersons Komödie „Grand Budapest Hotel“ kamen alle: Jeff Goldblum, Tilda Swinton, Adrien Brody, Harvey Keitel sowie das Faktotum der Anderson-Welt, Bill Murray, amüsierten sich beim Schaulaufen offenkundig.

 

Vielleicht erinnerte sie diese kleine Klassenreise zurück nach Deutschland an ihre Zeit im letzten Jahr in Görlitz – dort, in einem alten Jugendstil-Kaufhaus, wurde Andersons versponnene Geschichte gedreht. Dieser „kleine Ort, in dem es eigentlich nichts gibt“ (so die gebürtige Irin Saoirse Ronan bei der Pressekonferenz) schweißte die per Film zusammengewürfelte Truppe Abend für Abend zu gemeinsamen Kneipengängen zusammen. „Wenig Geld, lange Arbeitszeiten und steinhartes Brot“, so beschreibt Bill Murray seine Erfahrungen. „Ich liebe es.“

Anderson grinst dazu stumm. Er ist bereits zum dritten Mal im offiziellen Wettbewerb dabei. Im Jahr 2002 war er mit „The Royal Tenenbaums“ in der Bären-Konkurrenz, drei Jahre später mit den „Tiefseetauchern“. Man wäre gerne dabei gewesen, als der detailverliebte Anderson sich auf die amerikanisch-sorglose Suche nach einem Drehort begeben hat, der das verströmt, was er sich in seinem phantasmagorischen Kopf als den Glanz des untergegangenen alten Europa denkt. Mit sehr leichter Hand sammelt er sich seine „Welt von gestern“ in einer „Stefan-Zweig-Atmosphäre“ zusammen: In der längst zerbröselten osteuropäischen Republik Zubrowka steht am Vorabend des Zweiten Weltkrieges im Kurort Nebelsbad jenes pastellfarbene, zauberbergartige Etablissement, dessen Angestellte nicht weniger exzentrisch sind als seine Gäste.

Mendl heißt der Konditor des Ortes, und so wie er seine überzuckerten Törtchen in Manschetten und Schächtelchen packt, so legen sich gleich drei Rahmenhandlungen um die eigentliche Geschichte. Die ist eine Gaunerei mit ordentlich Mord und Totschlag, abgehackten Körperteilen und einem millionenteuren Renaissance-Gemälde. Monsieur Gustave (großartig: Ralph Fiennes), ein Concierge mit literarischer Bildung und mit den besten aller Manieren, ist nicht nur der höfliche Diktator des Hotelreiches und aller zahlenden älteren Damen, sondern auch ein Mann mit eiserner Haltung – einer der letzten in einer „Welt, die zum Schlachthaus geworden ist“. Swinton gibt die 84-jährige Madame D., die ihm hörig ist (Gustave: „Ich hatte schon Ältere“) und ermordet wird. Als Gustave zum Haupterben wird, entspinnt sich ein wilder Kampf mit Madames Sohn Dimitri (Brody).

Anderson-Fans werden die comicstriphaften Bilder dieser artifiziellen Welt lieben. Wahrscheinlich würde man auch noch beim zehnten Durchgang einen bis dahin unentdeckten Seitenhieb finden, so stilistisch genau ziseliert Anderson seine Szenen – und manchmal ist diese Lust so überausgeprägt, dass man den Eindruck gewinnen kann, die Geschichte selbst sei zweitrangig. Aber es gibt sie dann doch, die Momente, in denen die absurde Komik direkt hineinrast in die bitterernste Darstellung dessen, was zusammen mit der alten Welt untergegangen ist: der einfache menschliche Anstand. In einer Szene faltet der Concierge seinen Diener als bildungsfernen Fremdling zusammen. Zero antwortet leise auf die Frage, was er eigentlich in Zubrowka will, und erzählt, wie er als Kriegswaise über Tausende Kilometer zu Fuß geflüchtet ist. Gustave entschuldigt sich bewegt. Und verteidigt seinen un-arischen Freund dann höflich bis zum Nasenbluten gegen die Nazihorden der Zig-Zag-Division.

Einen stärkeren Kontrast als Andersons Zubrowka-Wunderkammer könnte man sich zur Hier-und-jetzt-Welt nicht denken, in die der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag die Zuschauer praktisch mit der Nase hineindrückt. Ein Sommer in Berlin, eine mittelschlampige Wohnung irgendwo im Westen, Toastbrot mit Mayo zum Frühstück, ein Junge, der bei Mutter und Bruder lebt – und irgendwie der einzige Erwachsene in dieser Geschichte ist. „Jack“ heißt Edward Bergers Drama um einen Zehnjährigen, dessen Mutter zwar liebevoll, aber verantwortungslos mit ihren Kindern umgeht.

Berger hütet sich vor Plattenbauklischees mit versoffenen Erwachsenen, die morgens um zehn auf der Couch Pornos schauen. Ist die Mutter da, dann liebt sie ihre Kinder – nur leider vergisst sie das manchmal, wenn das Hedonistenleben schöner ist. Berger erzeugt einen feinen, sich heillos erweiternden und dann wieder verkrustenden Riss zwischen Normalität und Katastrophe. Irgendwann kommt Jack ins Heim und wartet jede Sekunde auf die Rückkehr zur Familie in den Ferien. Aber die Mutter holt ihn nicht ab und verschwindet. Der Junge reißt aus, schnappt sich seinen Bruder und sucht sie.

Erbarmungslos zwingt einen die Kamera in dieses Kinderleben. Mit fast erzieherischem Anspruch wird man durch schwer erträgliche Echtzeitsequenzen getrieben, in denen die beiden durch die Stadt irrlichternden Brüder auf ihrem Weg verfolgt werden: in dunkle Drogenpartykeller, vorbei an den teilnahmslosen bürgerlichen Hundertschaften in einer Einkaufsmeile, beim Klauen von Dosenmilch und Zucker gegen den ärgsten Hunger in einem Coffeeshop. Schmerzhafter noch als Jacks verzweifelte Stärke ist die Begegnung mit der empathiefreien Umwelt, die diese Form der unsichtbaren Vernachlässigung perfekt ignoriert. Man kommt aus dem Kino und will die Bilder abschütteln. Aber vor der Tür trifft man diese Welt einfach wieder und blickt sich um, ob da irgendwo ein Kind alleingelassen aussieht.

Das fängt ja gut an, wenn schon an Tag zwei der Berlinale die Grenzen zwischen drinnen und draußen verwackeln. Am Wochenende wird die emotionale Schleudertrommel noch ein paar Umdrehungen schneller gestellt. Im Wettbewerb warten zwei deutsche Beiträge – Dramen natürlich – um Schillers Liebe (Dominik Graf, „Die geliebten Schwestern“) und um religiösen Wahn (Dietrich Brüggemann, „Kreuzweg“). Dazu kommt Lars von Triers Werk „Nymphomaniac Volume I“, in dem es 145 Minuten lang um Sex geht. Okay, diese Geschichte hat mit der Realität garantiert nichts zu tun.