Ursula Krechels „Landgericht“ ist zum Auftakt der Buchmesse als Roman des Jahres prämiert worden. Eine Analyse.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Frankfurt - Überall gekrönte Häupter im Kaisersaal des Frankfurter Römers, langhaarige Erlauchte aus längst vergangenen Tagen zieren die Wände. Angesichts dieser geschichtssatten Kulisse gerät leicht aus den Augen, dass die Krönung, um die es diesmal geht, die Verleihung des Deutschen Buchpreises, auf eine Tradition von gerade einmal acht Jahren zurückblicken kann.

 

Im Foyer wird im Vorfeld munter spekuliert. Der Agent eines Shortlist-Autors ist sich völlig sicher, dass sein Schützling das Rennen machen wird: „Diese Jury hat schon so viel Mut bewiesen, sich über so vieles hinweg gesetzt, hat drei Suhrkamp-Autoren nominiert – sie wird sich von Äußerlichkeiten nicht beirren lassen.“ Das ist auch das Stichwort in der Rede des Vorsitzenden des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder: „Literatur braucht Mut“, sagt Honnefelder und erinnert an die aristotelische Definition, nach der Mut die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit sei.

Das klingt vernünftig und ausgeglichen, aber auch gleichzeitig wie eine Vorentscheidung gegen das wahrlich tollkühn-bibliophile Finsterwerk „Indigo“ des jungen Österreichers Clemens J. Setz. Ein psychisch angegriffener Mensch gleichen Namens setzt sich darin mit Kindern auseinander, die hier wegen einer rätselhaften Krankheit allerdings im buchstäblichen Sinn zu empathiefreien Kotzbrocken mutiert sind. Auch die zerebralen Abenteuer, in die der 85-jährige Nervenarzt und Schriftsteller Ernst Augustin in seinem Roman „Robinsons blaues Haus“ verstrickt, liegen fernab des aristotelischen Mittelwegs, sind aber gerade deshalb unheimlich und betörend. Und was soll man zu Ulf Erdmann Zieglers Schrifttypenroman „Nichts Weißes“ sagen, der Zeitgeschichte in Lettern lesbar macht? Dass das Kühne in der Literatur häufig eben auch das Tolle ist.

So bleiben unter Mutgesichtspunkten, sieht man von dem bereits in Leipzig bepreisten Wolfgang Herrndorf mit „Sand“ ab, Ursula Krechel und Stephan Thome: „Landgericht“ oder „Fliehkräfte“, zwei Romane, die zwar das Zerbrechen von Familien gemeinsam haben, darüber hinaus aber Welten voneinander getrennt sind. Thome ist zu Hause in einem kleinbürgerlichen Beziehungsgefüge und einem geschmeidig virtuosen Erzählen, das auf bewundernswerte, altmeisterliche Weise nach außen trägt, woran es innen krankt.

Ursula Krechel dagegen ist auf Seiten derer, die kein Zuhause mehr haben: Deutsche Exilanten in China während des Nationalsozialismus in ihrem Erstling „Shanghai fern von wo“ oder Menschen wie jetzt der Richter Richard Kornitzer, der als Staatenloser 1947 versucht, dort wieder Fuß zu fassen, wo er zuvor vertrieben wurde, und, mit dem Wunsch, entschädigt zu werden, an der bundesrepublikanischen Nachkriegsbürokratie scheitert. Diese leckt vor allem ihre eigenen Wunden, prägt Begriffe wie „Entnazifizierungsopfer“ und blickt ansonsten zynisch und kalt nach vorn.

Geschmeidig ist in diesem „Landgericht“ nichts. Die Sprache schnarrt kanzleihaft, und die Erzählerin begleitet treu wie eine Sekretärin Kornitzers hoffnungslosen Marsch durch die Instanzen. Und doch wird gerade in dem merkwürdig unangemessenen Ineinandergleiten von fingiertem und dokumentarischem Material die ungeheure Einsamkeit und Abgeschnittenheit dieser modernen Kohlhaasfigur offenbar.

Vielleicht ist es die dem Protagonisten vorenthaltene Gerechtigkeit, die die Jury bewogen hat, stellvertretend wenigstens seiner Autorin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Für viele überraschend erwählt das siebenköpfige Preisgericht nicht die hinsichtlich der Breitenwirkung sicher viel versprechenderen „Fliehkräfte“ zum besten Roman, sondern – mutig – Krechels „Landgericht“. Ein Buch, wie der Juryvorsitzende, der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid erklärt, das ein präzises Bild der frühen Nachkriegsbundesrepublik zeichnet, politisch, akut und modern; ein Buch, das wie die Triererin in ihrer Dankesrede betonte, ästhetisch und auch persönlichkeitsrechtlich vor einigen Jahren noch gar nicht möglich gewesen sei. Und das seine, bis dahin vor allem als Lyrikerin in Erscheinung getretene Autorin, endlich für die Mühen von 22 vorhergehenden Büchern entschädigt.

Es ist mehr als nur ein launiges Detail, dass die 64-jährige Autorin ihrer spontanen Überwältigung erst Ausdruck verleihen kann, nachdem sie an ihrem Platz einen kleinen Zettel aus der Handtasche gekramt hat. Auf ihm steht schwarz auf weiß, was sich in ihr gerade ereignet: freudiger Schwindel, Sprachlosigkeit. So ist der Zettel selbst ein Dokument in der Reihe jener, auf der das Werk der Autorin gründet, in dem menschliches Empfinden und dürres Notat zusammenschießen – dieses Mal nicht als Zeugnis eines schmerzlichen Abbruchs, sondern als eines der Erfüllung.

Der kleine österreichische Verlag Jung & Jung aber, der nach Melinda Nadj Abonji vor zwei Jahren nun abermals mit einer Buchpreisträgerin aufwarten kann, zählt zu den eindeutigen Gewinnern. Denn mit dem Titel sind Auflagen und Absatz garantiert. Doch das gefällt nicht jedem. Ein Verleger sinniert bei dem anschließenden Büfett darüber, dass die sportliche Inszenierung, der geschickt gesteigerte Suspense alles zu sehr auf eine Person zuspitze; die Mitnominierten würden danach nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern als mit dem Makel des Verlierers behaftet. Das aber wäre in der Tat fatal. Nicht weil man daran zweifeln würde, ob die Jury wirklich den besten Roman ausgezeichnet hat. Dafür gibt es schließlich Argumente. Nein, weil sechs Romane mit Sicherheit besser sind als einer. Auch dafür gibt es Argumente.