Seit seinem 16.Lebensjahr hat Karl Birkeneder auf dem Wasen kein Volksfest versäumt. Inzwischen ist der Cannstatter 74 Jahre alt. Er spricht über Tradition und Veränderung.

Stuttgart - Es gibt Dinge, die ändern sich nie. Die Fruchtsäule wird wohl immer der beliebteste Treffpunkt der Stuttgarter bleiben, die sich zum Volksfest-Besuch auf dem Wasen verabreden. Wenn Karl Birkeneder von dem Wahrzeichen aus auf den Festplatz blickt, hat sich dort allerdings einiges verändert: „Die B-Straße war früher die Schaustellerstraße, nun ist sie eine Festzeltmeile“, sagt der Cannstatter. Die mittlere der drei Hauptachsen, die parallel zum Neckar verlaufen und über den Festplatz führen, sei früher die High-Society-Straße der Schausteller gewesen, erinnert sich Birkeneder: „Dort durften die neuesten Fahrgeschäfte stehen“, sagt der ehemalige Schausteller, der den Wasen kennt wie seine Westentasche.

 

Geschäft vor zwei Jahren abgegegen

Seit seinem 16. Lebensjahr hat der inzwischen 74-Jährige kein Volks- und kein Frühlingsfest versäumt. Zunächst arbeitete er im elterlichen Betrieb, einer Turmrutschbahn mit. Später war er mit dem Bunten Allerlei, einem Ausspielungsgeschäft, der Familienachterbahn Cityjet und dem Karussell Stuttgarter Wellenflug selbstständig. „Vor zwei Jahren habe ich das Geschäft an einen Kollegen abgegeben“, sagt Birkeneder, während er nachdenklich an den Festzelten entlang schlendert. „Früher einmal gab es vier Bierzelte, heute sind es neun.“ Diese Entwicklung sieht er mit gemischten Gefühlen. Natürlich lockten gerade die großen Zelte Touristen nach Stuttgart und auf den Cannstatter Wasen. Andererseits: „Das Volksfest ist ein Unikat wegen der Präsentation und der Vielfalt der Geschäfte“, so der ehemalige Schausteller. Jeder, der etwas mit der Organisation großer Volksfeste zu schaffen habe, sei stets nach Stuttgart gekommen, um sich über Trends zu informieren: „Als 1969 oder 1970 das erste 50 Meter hohe Riesenrad aufgebaut wurde, hat das für Furore gesorgt.“ Ähnliches Aufsehen hätten wenige Jahr später nur noch die erste Looping-Bahn und die Wasserbahn erregt. „Das waren fantastische technische Sprünge“, sagt Birkeneder, der sich noch an Zeiten erinnern kann, als die Karussells mit Wasseranlasser betrieben wurden und eine Fahrt im Autoscooter 50 Pfennig (etwa 25 Cent) kostete – inzwischen sind es 2,50 Euro.

„Volksfest ist ein Schaustellerfest“

Auch wenn die Technik der Fahrgeschäfte heute ausgereift sei wie nie, und Größe, Höhe und Schnelligkeit kaum Grenzen gesetzt seien, müsse nun dafür gesorgt werden, dass die Zelte nicht noch mehr Raum auf dem Wasen einnehmen. „Das Volksfest ist nicht das Bierfest Nummer eins, sondern das größte Schaustellerfest.“ Für viele von ihnen sei es eine Existenzgrundlage. Außerdem funktioniere das eine ohne das andere nicht, niemand wolle über einen leeren Festplatz in ein Bierzelt gehen. „Wenn es keine Schausteller mehr gibt, wäre dies das Ende des Volksfests.“ Angetan, das Niveau des Fests zu heben, sei dagegen der Trachten-Trend: „Auch früher wurden schon vereinzelt Trachten getragen.“ Die ewige Diskussion darüber, ob Dirndl und Lederhose bayerischer Herkunft seien und deshalb auf dem Volksfest fehl am Platz, ist er leid: „Die Tracht ist ein süddeutsches Erzeugnis und schön anzusehen“, sagt Birkeneder, während er sich umschaut und einer ehemaligen Kollegin im Maiskolbenstand zuwinkt und kurz einem Pizzabäcker und langjährigen Freund die Hand schüttelt.

Karl Birkeneder ist auf dem Wasen bekannt wie ein bunter Hund. Man kennt ihn und freut sich über ein Wiedersehen mit dem Mitbegründer des Cannstatter Volksfestvereins. „Wir sind wahrscheinlich die letzte Kaste, die wirklich verzahnt ist“, sagt Birkeneder. Hilfsbereitschaft sei unter Schaustellern selbstverständlich, in der Not helfen sich auch Kollegen mit einer Zugmaschine oder Werkzeug aus, die sich sonst auf dem Festplatz aus dem Weg gehen und beim Schaustellerstammtisch im Festzelt, am Steakhaus Müller oder dem Café Grell lieber weit auseinandersitzen. An diesem Zusammenhalt wird sich wohl auch nie etwas ändern.