Mit dem Jung-Choreografen-Special „Meet the Talents“ und der Deutschland-Premiere von Hofesh Shechters „Grand Finale“ bietet das Colours-Festival einen Abend der Extreme.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Hell und Dunkel, Anfang und Ende, Hoffnung und Apokalypse: Wer sich am Dienstagabend beim Tanzfestival Colours sowohl für das Jung-Choreografen-Special „Meet the Talents“ als auch für „Grand Finale“, dem im Juni in Paris uraufgeführten Werk des israelischen Choreografen Hofesh Shechter, entschieden hatte, durchlebte ein Wechselbad der Gefühle. Es sind diese extremen Kontraste, die mit die Stärke der Stuttgarter Tanzbiennale ausmachen.

 

Mit „Meet the Talents“ eröffnete der Festivalleiter Eric Gauthier den Abend in der noch taghellen Sporthalle des Theaterhauses. Fünf Nachwuchs-Choreografen hatten hier knapp eine Woche lang mit den Gauthier-Tänzern jeweils eine kurze Choreografie erarbeitet und dem Publikum bei offenen Proben erlaubt, Einblick in den ansonsten streng abgeschirmten Kreationsprozess zu bekommen.

Den Anfang macht Guillaume Côté, mit dem der Franko-Kanadier Eric Gauthier einst in Toronto die Ballettschule besuchte. Inzwischen ist er einer der Publikumslieblinge des National Ballet of Canada in Toronto. In „Scheinriese“ setzt er eine Maske ein, um in die Kluft zwischen Sein und Schein hineinzuleuchten. Gescheitelter Blondschopf, ein breiter Grinse-Mund: ein Schelm, wer dabei an Donald Trump denkt? Derart entstellt wird Nora Brown in den Händen von David Rodríguez zur Marionettenpuppe, lässt sich von ihm den Kopf verdrehen, den Unterschenkel schütteln. Erst als sie die Fratze ablegt, findet sie mit ihrem Partner zu eigenen Bewegungen. Dass es am Ende er ist, der sich hinter der Maskerade verschanzt, kommt nicht unerwartet.

Zitronenspritzige Miniaturen

Guillaume Hulot, Ballettmeister bei Gauthier Dance, bringt in „Beans“ sehr eigenwillig Kurt Cobain und Camille Saint-Saëns „Dance Macabre“ zusammen. Der Franzose wirft mit Francesca Ciaffoni, Alessio Marchini und Maurus Gauthier ein Trio auf das Tanzfeld, aber nur, um jeden von ihnen als verlorene Seele vorzuführen – vollkommen in ihre egozentrischen Bewegungen versunken. Wenn sie dann doch in gewagten Dreiecks-Körper-Konstruktionen zueinander finden, dann sieht das ziemlich brüchig aus.

Der Israeli Shahar Binyamini hatte mit Gauthier Dance bereits Ohad Naharins „Minus 16“ für den „Mega Israel“-Abend einstudiert. Ihn interessiere alles, was „posthuman“ sei, sagt er, und tatsächlich mutieren die neun Tänzerinnen und Tänzer in weißen Pants und mit Blockstreifen überzogenen Brüsten und Armen zu einer Art Zell-Material. „Empty 3“ gebärdet sich als unterkühlte, aber markant choreografierte Labor-Exploration der Leere.

Der Italiener Giuseppe Spota, ehemaliger Gauthier-Tänzer, seit zwei Jahren ausschließlich als Choreograf tätig, führt mit „Unna“ vor, wie eine Geste zu einer stimmigen Choreografie erweitert wird. Das Motiv einer DNA-Spirale durchgängig durchhaltend verschränken Garazi Perez Oloriz und Luke Prunty in dem eleganten Duett unauflösbar ihre Glieder. Nadav Zelners Frische kennt das Publikum schon aus dem Colours-Werbeclip – der Israeli, von dem Eric Gauthier ein abendfüllendes Programm für Februar 2018 ankündigt, entlässt das Publikum mit zwei zitronenspritzigen Miniaturen. Zunächst witzelt er zusammen mit der Ballettmeisterin Takako Nishi mit kessem Slapstick über die Kabbeleien eines Paares; in „Bloom“ bringt die Gauthier-Truppe in metallisch-glänzenden Bodysuits zu Gospel-Chor-Gesang die Lebensfreude Afrikas in die Theaterhaus-Sporthalle.

Abrechnung mit einer Welt, die ausgrenzt und entrechtet

Wer nach dieser kurzweiligen Tanzparty in die Halle T1 wechselt, muss erst einmal schlucken: Schon vor Beginn lassen Nebelschwaden die Schwärze des Saales bedrohlich erscheinen. Es ist die passende Einstimmung auf ein Stück, das einem, ungemein düster, ungemein schön, den Atem stocken lässt. Denn was der mit seiner Company in London ansässige Choreograf 95 Minuten lang in dem von Colours koproduzierten „Grand Finale“ ausbreitet, ist ein Abgesang auf die Zivilisation, eine Abrechnung mit dem Versagen einer Welt, die ausgrenzt, unterdrückt, entrechtet, mordet, die sich unter Terror, Krieg und Gewalt windet und doch einfach weiter macht, als ob nichts wäre.

Weitermachen: Es hat also Methode, wenn Shechter, 1975 in Jerusalem geboren, mit Terrorallgegenwart aufgewachsen, seine zehn Tänzer immer wieder die gleichen Gesten vollziehen lässt. Sie strecken einander nieder, schleifen die Opfer über den Boden, nur damit sich diese wieder in den rasanten Schlagabtausch einreihen können. Dann wiegen vier Männer leblose Frauenkörper in ihren Armen, stellen, weil kein Muckser von ihnen kommt, mit ihnen die unmöglichsten Dinge an – die Verständigung, die Menschheit am Nullpunkt.

Shechter kontrastiert Furor und Ekstase mit statisch-stillen Momenten, mischt Folklore und radikal zeitgenössisches Tanzmaterial. Stark sind die in urbane Outfits gehüllten Tänzer in den wenigen synchronen Sequenzen, noch viel packender aber ist, wie sie sich bei aller Komplexität und Individualität ihrer Bewegungen zu einer Einheit formen.

Mordlüsterner Reigen zu Operetten-Klängen von Léhar

Mit auf der Bühne: sechs Musiker. Wie von Geisterhand verschoben tauchen sie immer wieder an anderer Stelle auf. Die meiste Zeit liegt an- und abschwellendes Percussion-Dröhnen, von Shechter komponiert, über der Endzeit-Szenerie. Ebenso beweglich wie bedrohlich: sechs schwarze Wand-Elemente, mit Tom Scutt kongenial den Druck, die Ausweglosigkeit, die selbst erzeugte Gefangenschaft symbolisiert, in die sich die Menschheit manövriert hat.

Vor der Pause dann der makaberste Moment: Seifenblasen schweben herab, kurz hält die Schar inne, dann geht der mordlüsterne Reigen weiter, am Ende salutiert ein Duo über einem Leichenberg. Das Ganze grotesk zugetüncht mit dem Walzer „Lippen schweigen“ aus Franz Léhars „Lustiger Witwe“, der Operette, die Adolf Hitler die liebste war. In der Pause spielen und singen die Musiker vor dem Vorhang – so ansteckend fröhlich, dass das Publikum einstimmt. Wie perfide! Demonstriert Shechter, der im Anschluss noch geduldig Fragen aus dem Publikum beantwortet, doch so ein weiteres Mal, wie Verdrängung funktioniert. Nur nicht über das Elend nachdenken, wir sind doch hier, um uns unterhalten zu lassen.

Aber der Vierzigjährige malt das Ende der Zivilisation einfach weiter mit den dunkelsten Farben. Gibt es keine Hoffnung mehr? Am Schluss pfercht er die Menschen auf engstem Raum zwischen drei Wänden zusammen, man sieht eine Umarmung, dann kniet einer vor der Wand, fällt um, wie exekutiert. Was bleibt, ist ein Häuflein Aufrechter – und eine Mauer, die schließlich doch zur Seite weicht.