Die Kinoauftritte der kostümierten Superhelden aus den Marvel-Comics lassen die Kassen klingeln. Jetzt hat die Disney-Tochter Marvel die TV-Serie „Daredevil“ produziert und bringt sie via Netflix an die Fans. Charlie Cox spielt darin einen blinden Verbrecherjäger.

Stuttgart - Andere Leute gehen abends nach dem Büro noch ins Fitness-Studio, um sich ihre Verspannungen wegzutrainieren. Der Anwalt Matt Murdoch kann über solchen Pseudosport nur lächeln. Er treibt sich nach den Stunden in der Kanzlei auf den Dächern New Yorks herum, schwingt sich durch die Straßenschluchten und sucht nach Kriminellen, mit denen er sich furiose Prügelduelle liefern kann. Dabei trägt er ein rotes Kostüm und eine Maske mit Teufelshörnern.

 

Daredevil nennt er sich, ist ein Superheld ohne die üblichen Superkräfte, ein Akrobat also, kein Mutant. 1964 hat er für Marvel Comics den Dienst aufgenommen und seitdem unter den Händen von vielen verschiedenen Zeichnern und Autoren die unterschiedlichsten Facetten seiner Persönlichkeit und seiner Berufung offenbart. Ab sofort kann man ihn auch als Helden einer Netflix-Serie erleben. Alle dreizehn Episoden der ersten Staffel von „Daredevil“ stehen bei dem Video-on-Demand-Service nun zur Verfügung.

Ben Affleck hatte in der Rolle einen verpatzten Kinoauftritt

Comic-Helden bilden derzeit das Kerngeschäft von Hollywood. Die immensen Einnahmen der Einzelfilme um „Thor“, „Captain America“, „Spider-Man“ und „Iron Man“ sind aber gar nichts gegen die Chance, mit Fortsetzung um Fortsetzung und gar mit der Zusammenführung der Kämpfer zu Teams – siehe „The Avengers“ – auf viele Jahre hinaus das Blockbustergeschäft planbar zu machen. Seit einiger Zeit werden nun auch Fernsehserien mit Figuren aus den Superhelden-Universen von Marvel und DC gedreht, siehe „Arrow“ und „Agents of S.H.I.E.L.D“.

Mit einem baldigen Auftritt von Daredevil aber hatte man eigentlich nicht gerechnet. 2003 hatte der Held in Rot nämlich unter der Regie von Mark Steven Johnson und mit Ben Affleck in der Hauptrolle einen völlig verpatzten Kinoauftritt. Die Figur galt nachvollziehbarerweise als verbrannt. Davon haben sich die Produzenten von Disney, Marvel Entertainment und ABC aber nicht einschüchtern lassen.

Geschärfte Sinneskräfte

Mag sein, dass sie sich dabei an die Heftchenhistorie von Daredevil erinnert haben. 1964 baute der Chefautor Stan Lee den Superheldenstall von Marvel gerade erst auf. Bei der Suche nach Ergänzungen zu den frühen Serien „Die Fantastischen Vier“ und „Spider-Man“ kam ihm Daredevil wohl eher als Verlegenheitslösung in den Sinn, als Marvels Variante von Batman. Der Fledermausmann war beim Konkurrenzverlag DC der Normalo, der sich in einer Welt der Superhelden auf Willen, Muskeln und Werkzeuge verlassen musste.

Immerhin, Daredevil wurde nicht mit dem Fabelvermögen von Bruce Wayne und auch nicht mit einer Bat-Höhle voller Gadgets ausgestattet. Er bekam aber eine kleine Besonderheit: durch einen Unfall in der Kindheit ist er erblindet. Seine restlichen Sinneskräfte wurden dadurch so geschärft, dass sein Gehirn so etwas wie Radarbilder der Umgebung zusammensetzen kann. So kann sich ein Mann ohne Augenlicht so schnell und sicher bewegen wie jeder andere Kämpfer.

Nahkampf mit Menschenschleppern und Killern

Manchem Leser ließ das Daredevil besonders ans Herz wachsen, die große Masse hielt ihn eher für einen Schwächling im Kosmos der Überleister. Hie und da stand die Heftreihe gar vor der Einstellung, aber gerade ihre begrenzte Reichweite ließ den Autoren weit mehr Freiheit: Marvel musste hier keine großen Profite schützen. Und so durften Autoren wie Frank Miller, Brian Michael Bendis, Ed Brubaker und Mark Waid mit der Serie im Lauf der Jahrzehnte experimentieren. Realistisch und exotisch, sensibel und psychotisch, bluttriefend und esoterisch, all das war sie zu Zeiten.

Netflix präsentiert nun einen recht handfesten Daredevil. Viel Wert wird auf die Traumatisierung und Prägung des jungen Matt gelegt, dessen Vater, ein Boxer, ermordet wird, nachdem er sich weigert, für einen Wettbetrug zu Boden zu gehen. Der von Charlie Cox („Boardwalk Empire“) gespielte Murdoch trainiert sich dann verbissen zur Kampfmaschine, aber er trägt anfangs noch kein grelles Kostüm. Schwarze Klamotten und ein schwarzes Tuch als Maske müssen genügen: Daredevil unplugged, sozusagen. Auch geht es nicht um das freie Schwingen in der Höhe über der Stadt: dieser Daredevil steckt beständig im Martial-Arts-Nahkampf mit Menschenschlepperbanden und Killern.

Befreit vom Pompösen und Kitschigen

Eine komplexe, in viele Tiefen reichende A-Serie wie „Game of Thrones“, die auch ein Publikum jenseits der Genrefans auf Anhieb fasziniert, haben der Showrunner Drew Goddard und der Produzent Jeph Lobe, selbst ein begnadeter Comicautor, mit „Daredevil“ noch nicht geschaffen. Der Grundplot bleibt überschaubar, die Kämpfe verlieren durch ihre Regelmäßigkeit an Faszinationskraft.

Aber das Grundpersonal des Comics, Murdochs Kanzleipartner Foggy Nelson (Elden Henson), die Sekretärin Karen Page (Deborah Ann Woll) und der am Imperiumsaufbau interessierte Gangster Kingpin (Vincent D’Onofrio), werden gut entworfen. Und nicht alles an ihnen kennt man aus den Comics. „Daredevil“ ist ein gelungener Versuch, die Superheldenwelt vom Pompösen und Kindischen der Kinoauftritte zu befreien. Weitere Serien etwa um Luke Cage sollen ebenfalls in der Daredevil-Welt spielen, auch Team-Auftritte sind geplant. Das könnte sich, je nach Zuschauerrückmeldung, noch interessant entwickeln.