Das amerikanische Bandkollektiv Flaming Lips legt ein tolles neues Album vor. Und zeigt damit nebenbei auf, warum in der Musikbranche Krisenstimmung herrscht.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Schlechte Zahlen gab’s dieser Tage mal wieder von der deutschen Musikindustrie. In ihren Halbjahreszahlen verkündete sie zwar jubilierend den größten Umsatzwachstum seit 1993, der aus dem stark zunehmenden Audiostreaming resultiert. Zugleich jedoch ist der Umsatz mit Downloads (Einzeltracks und komplette Alben) um 16,3 Prozent gegenüber der ersten Jahreshälfte 2018 gesunken, der Erlös aus CD-Verkäufen um 11,7 Prozent. Physische Tonträger machen mit 34 Prozent nur noch ein klägliches Drittel der Umsätze insgesamt aus. Und der Absatz von CDs, dem viele Jahre lang wichtigsten Trägermedium für Musik, hat sich in Deutschland von 2009 (103 Millionen) auf 2018 (knapp 51 Millionen) mehr als halbiert.

 

Der einzige Lichtblick im Geschäft mit physischen, also in den Händen haltbaren Tonträger als solchen ist der Schallplattenabsatz. Viele Jahre in der kaum zählbaren Nische verkümmert, erlebt Vinyl eine jetzt auch messbare Renaissance. 2009 wurde lediglich die grotesk geringe Summe von 300 000 Schallplatten in ganz Deutschland verkauft, mittlerweile steuern LPs mit zuletzt im Vorjahr über drei Millionen verkauften Exemplaren immerhin schon wieder 4,4 Prozent zum Gesamtumsatz der Musikwirtschaft bei.

Ein Teil des Record Store Days

Unter den zahllosen mehr oder weniger tauglichen Mitteln zur Linderung der Krise befindet sich auch der so genannte Record Store Day. Er wurde 2008 ins Leben gerufen, um der Beratung und der Atmosphäre des aussterbenden Tonträgerfachhandels wieder mehr Gewicht einzuräumen. Dazu werden jedes Jahr exklusive Platten veröffentlicht, die häufig streng limitiert und daher nur an diesem Tag in den Läden zu kaufen sind.

In diesem Jahr fiel der Record Store Day auf den 13. April, als Künstler nahmen diesmal auch die Flaming Lips teil. „King’s Mouth“, das neue Album der Band aus Oklahoma, erschien aus diesem Anlass vorab als Schallplatte in einer Auflage von 3600 Exemplaren als schön schwere 180-Gramm-Pressung in goldenem Vinyl. Ein feines Sammlerexemplar, das viele gerne gehabt hätten. Entsprechend üppig bestellte einer der beiden großen Stuttgarter Plattenhändler das Album auch, allein: er bekam nur ein einziges Exemplar ausgeliefert. Ob der Record Store Day zur Rettung eines Kulturguts beiträgt, darf man bezweifeln, wenn selbst an solchen Tagen die Vertriebswege der Musikindustrie so versagen, dass nicht einmal die wichtigsten Kunden beliefert werden, nämlich die Schallplattenhändler.

Jetzt, an diesem Freitag, kann sich aber jeder das Album kaufen, denn heute erscheint es ganz regulär als CD und Schallplatte. Wie man es von dieser ganz vorzüglichen Band gewohnt ist, wartet es wieder einmal mit allerlei Überraschungen auf. Die erste ist, dass es sich nicht um einen klassischen Longplayer handelt, sondern dass die neuen Titel mit Sprecheinlagen unterbrochen werden. Sie stammen, zweite Überraschung, von Mick Jones, dem Gitarristen der legendären britischen Punkband The Clash. Er übernimmt die Rolle des Erzählers, die Musik und die musik- beziehungsweise beatunterlegte Texte über eine Art Kindskopfkönig wechseln sich ab und ergänzen sich zu einer Melange, die wiederum auf der Kunstinstallation „King’s Mouth“ von Wayne Coney gründet, dem Mitgründer und Thereminspieler der Flaming Lips, der diese Installation in verschiedenen amerikanischen Museen gezeigt hat und mit ihr jene audiovisuelle Symbiose ausleuchtet, die auch für die eher Performances ähnelnden Konzerte der Band kennzeichnend sind.

Keine Angst vor Grübelei

Das klingt alles ein bisschen verkopft, aber so kompliziert ist es gar nicht. Die kleinen eingesprochenen Interludien wären zwar verzichtbar, stören den Hörfluss aber nicht sonderlich. In diesem Hörfluss wird dort weitergemacht, wo das amerikanische Bandkollektiv vor zwei Jahren beim Album „Oczy Mlody“ aufgehört hat: Psychedelic-Alternativepoprock der doch recht melodischen, ständig auch in anderen Genres wildernden Sorte, der in ausnahmslos jedem Track unvorhersehbare Haken schlägt und durch Ideenreichtum und Instrumentationsvielfalt besticht.

Die Symbiose künstlerischer Genres paart sich hier mit der Verknotung musikalischer Stile, dies ist die Stärke dieses vorzüglichen Albums. Und eben diese künstlerisch ambitionierte Suche nach immer neuen Wegen und nicht das Wiederkäuen vermeintlicher Erfolgsrezepte wären es auch, die man von dieser Band und ihrem Label Pias aus mühelos zu übertragen tatsächlich auch den Musikmultis raten würde, um gegen eine trotz einiger Lichtblicke nicht wegzudiskutierenden ernsthaften Existenzkrise im Tonträgergeschäft glaubhaft anzukämpfen.

Als Konzeptalbum mag man „King’s Mouth“ deuten, man muss es aber nicht. Auf jeden Fall sollte man, um den Inhalt würdigen zu können, in einem Rutsch diese gute alte Langspielplatte hören, für deren Fortexistenz die Flaming Lips hier ein flammendes Plädoyer singen.