Es ist ein Jammer, wie lieblos Stuttgart mit seinem Lusthaus umging. Jetzt wird die Geschichte des Renaissancebaus akribisch aufgearbeitet.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Es muss Carl Friedrich Beisbarth schier das Herz zerrissen haben: Der württembergische König Wilhelm I. höchstselbst hatte dem Architekten im Jahr 1844 den Auftrag erteilt, das Lusthaus am Schlossplatz in ein Hoftheater zu verwandeln – vom berühmten Renaissancebau sollte fast nichts übrig bleiben. Doch je länger Beisbarth durch das Haus wandelte, umso schwerer fiel es ihm, den Auftrag zu erfüllen. Nachdenklich schrieb er in sein Tagebuch: „Der Verlust dieses historischen Denkmals, welchem in technischer wie künstlerischer Vollendung in ganz Deutschland nur wenige gleich kommen, ist unersetzlich.“

 

Doch dem König widerspricht man nicht – und so ist Beisbarth in jenen Tagen zum Zerstörer und Bewahrer des Lusthauses gleichermaßen geworden. Tagsüber leitete er den Abriss – abends ging er als Privatmann auf die Baustelle und zeichnete ohne Unterlass Kapitelle und Figuren, Arkaden und Fassaden. So wollte er das Lusthaus, von dem es keine Originalpläne und Bilder mehr gab, zumindest auf dem Papier erhalten. „Häufig musste ich noch in später Nacht bei großer Ermüdung Aufnahmen machen, weil sie bei dem schnellen Abbruche am folgenden Tage nicht mehr bewältigt werden konnten“, notierte er. Die 514 Zeichnungen und Pläne, die Carl Friedrich Beisbarth (1808–1878) anfertigte, sind eine kleine Sensation: Sie haben eine solche Detailfülle und bilden das Gebäude so vollständig ab, dass sich mit ihrer Hilfe das Stuttgarter Lusthaus heute originalgetreu wieder aufbauen ließe.

Seit eineinhalb Jahren ist Nikolai Ziegler, Doktorand der Architekturgeschichte an der Universität Stuttgart, nun fast täglich Gast im Heiligtum der Stuttgarter Universitätsbibliothek. Dort im begehbaren Tresor, sauber verwahrt in großen Schubladen und bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit, schlummern die Zeichnungen Beisbarths in zehn Bänden mit braun gesprenkelten Einbänden vor sich hin. Zieglers Ziel ist es, diese Bände aus ihrem Dornröschenschlaf wachzuküssen –er will die erste große Monografie über das Lusthaus schreiben und hat sich dafür fünf Jahre Zeit genommen. Beisbarths Zeichnungen sind das Fundament von allem.

Ein Bau für große Bälle und Hochzeiten

Für den 26-jährigen Ziegler sind es nur wenige Schritte von seinem Büro im fünften Stock des Uniturms an der Keplerstraße bis zur Bibliothek – ein Mitarbeiter schließt ihn dort im Tresor ein, allein steht Ziegler dann in dem neonbeleuchteten Raum, der nach Papier und Vergangenheit riecht, er beugt sich über die Pläne und lässt sich an der Hand Beisbarths zurückführen in die Renaissance, als Herzog Ludwig am 30. März 1583 persönlich den ersten von 1700 Eichenpfählen in den Boden rammte. Sie sollten im sumpfigen Tal des Nesenbachs das Fundament bilden für das Neue, das große Lusthaus Württembergs. Dort sollten die großen Bälle, Hoffeste und Hochzeiten des württembergischen Hauses stattfinden und dessen Ruhm mehren.

Nun ist es nicht so, dass die wertvollen Zeichnungen Beisbarths in der Vergangenheit unbeachtet geblieben wären. Noch nie aber ist der Bestand systematisch ausgewertet worden, worüber sich Nikolai Ziegler wundert: „Es gibt überhaupt wenige Schriften zum Lusthaus.“ Das ist umso erstaunlicher, als viele Stuttgarter bis heute ein sehr emotionales Verhältnis zu diesem Bauwerk haben. Vermutlich liegt dies darin begründet, dass die Geschichte des Lusthauses eine Geschichte des Niedergangs ist– einst als künstlerisch bedeutendstes Lusthaus Europas gerühmt, ist davon nur eine jammervolle und chronisch vernachlässigte Ruine im Schlossgarten nahe dem Planetarium übrig. Vielen Stuttgartern zerreißt das, so wie damals Carl Friedrich Beisbarth, beinahe das Herz.

Die Dürnitz im Alten Schloss, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts der zentrale Ort der adligen Festivitäten, galt Herzog Ludwig als muffig und altmodisch – er wollte ein Bauwerk haben, das der sinnenfrohen höfischen Kultur der Renaissance entsprach. Sein Architekt Georg Beer wählte eine Lage mitten im herzoglichen Garten und verwies schon dadurch auf die neue Lebenslust – heute steht dort der Württembergische Kunstverein. Das Haus wurde bald allerorten gerühmt: Der Augsburger Patrizier Philipp Hainhofer bezeichnete es 1606 gar als „irdisches Paradeiß“.

Ein architektonischer Leckerbissen

Tatsächlich war die Pracht dieses Hauses unglaublich und überstieg im Grund die Möglichkeiten Württembergs. Vier Türme zierten die Ecken des Lusthauses, zwei Arkadentreppen führten an den Längsseiten zum offenen Wandelgang, und im Erdgeschoss plätscherten drei Springbrunnen.

Doch das war nur die Ouvertüre für den Ballsaal im ersten Stock, der das gesamte Gebäude ausfüllte und mit seinem Tonnengewölbe bis unters Dach reichte. Technisch war der Saal mit seiner Länge von 58 Metern extrem anspruchsvoll: So sorgte eine raffinierte Hängekonstruktion im Dachstuhl dafür, dass keine einzige Säule die Tänze der adligen Gäste störte. Und die himmlischen Szenen an der Decke, die breiten Fensterfronten und die hohen Portale müssen selbst der verwöhnten Haute Volée am württembergischen Hof größten Eindruck gemacht haben. Der Stuttgarter Historiker Harald Schukraft rühmt den Saal als den „großartigsten Innenraum, der je in Stuttgart existierte“.

Eines der größten Feste, die das Lusthaus je gesehen hat, inszenierte Herzog Johann Friedrich im März 1606: Zu Ehren der Geburt seines Sohnes Friedrich ließ er acht Tage lang alles auffahren, was ein Fürst an Verlustigungen zu bieten hatte – ritterliche Spiele, große Bälle, ein Feuerwerk und einen langen Umzug, bei dem römische Ritter ebenso auftraten wie Paris, Helena, Amor oder Elefanten mit Mohren.

Auf dem Haus lag kein Segen

Merian der Ältere hat von dieser Maskerade, deren Kosten Württemberg noch Jahre später belasteten, 83 Kupferstiche angefertigt. So wurden beim „Ballett der Nationen“ überdimensionale Köpfe in den Raum geführt, aus deren Mündern exotisch verkleidete Menschen stiegen. „Seind vier vbergrosse gebildete Menschenköpff auß einem Ecke entgegen herfürkommen“, heißt es dazu in einer zeitgenössischen Beschreibung: „Seind sie gar sanfft vnnd sittsam zweymahl mit einer verdeckten Musica auf dem Saal herumb spatziert vnd haben gegen den Fürsten Personen vnd schier auch erschrocknem Frawenzimmer wunderliche Reverentz gethon.“

Doch die Zeit der Bälle und Feste war schnell vorüber, denn es lag von Anfang an kein großer Segen auf dem Haus. Herzog Ludwig starb am 28. August 1593, einen Tag vor der Einweihung des Lusthauses. Wenige Jahre später kamen Pest und Söldnerheere über Deutschland; der 30-jährige Krieg dämpfte alle Festgelüste ungemein. So zogen bald die Theaterleute in das Gebäude, wobei zumindest unter Herzog Carl Eugen die Qualität der Spiele noch ordentlich gewesen sein soll. Wilhelm von Humboldts Urteil im Jahr 1789 war dagegen vernichtend: Die Schauspieler seien „in höchstem Grade plump und ungesittet, wozu denn noch der den Schwaben so eigne Mangel an Grazie, ihre Ungelenkigkeit und ihr Dialekt kommt“, ätzte er.

Ganz anders sieht Nikolai Ziegler das Lusthaus: Die Faszination, die Carl Friedrich Beisbarth vor 170 Jahren ergriffen hat, ist längst auch auf ihn übergegangen. Er investiert viel mehr Zeit in seine Doktorarbeit als gemeinhin üblich; wochenlang sitzt er in Archiven und Bibliotheken, um in völlig unsortierten Akten nach unbekannten Ansichten des Lusthauses zu suchen. Es sind die berühmten Stecknadeln im Heuhaufen, nach denen Ziegler fahndet. Und doch hat er einige gefunden, wobei ihm manche Blätter unter den Händen fast zu Staub zerrieselt sind.

Wie der Architekt die baulichen Überreste auf Papier gebannt hat, so bannt Ziegler jetzt den Nachlass Beisbarths in Bits und Bytes. Neben seiner Doktorarbeit ist er für die Digitalisierung der Zeichnungen verantwortlich; sie wird von der Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg finanziert. So müssen die sensiblen Blätter bald nicht mehr aus der Schublade geholt, sondern können online im Portal der Bibliotheken, Archive und Museen eingesehen werden.

Detailarbeit mit dem Computer

Und die digitale Kopie leistet noch mehr: „In starker Vergrößerung lassen sich Details erkennen, die Aufschluss geben über die Baugeschichte des Lusthauses“, erklärt Ziegler. Wie sah die innere Verschalung des Gewölbes aus? Wie waren die Abtropfnasen der Fensterbänke gestaltet? Wie wurden die großen Balken des Dachstuhles miteinander verzahnt? Die Zeichnungen von Carl Friedrich Beisbarth sind so genau, dass sich diese Fragen unterm Computerzoom beantworten lassen. Immer wieder entdeckt Ziegler technische Raffinessen, die ihn staunen lassen über die Baukunst der Renaissancehandwerker: So hatte Georg Beer versteckte Lüftungskanäle eingebaut, damit das tragende Gebälk nicht schimmelte. „So etwas gab es damals eigentlich noch gar nicht“, meint Ziegler.

Das Schicksal des Lusthauses ist dann endgültig in der Nacht auf den 20. Januar 1902 besiegelt worden: Nach einer Vorstellung von Richard Wagners „Meistersinger“ ging das Theater in Flammen auf. Die kümmerlichen Überreste sind zwei Jahre später in den Schlossgarten verfrachtet worden. „Es ist schon traurig, wie man jahrzehntelang die Ruinen bewusst dem Verfall preisgegeben hat“, sagt Nikolai Ziegler. Zumindest wurden die Steine vor einem Jahr gegen das Eindringen von Wasser geschützt; in diesem Frühjahr wird der Wandelgang mit seinem Kreuzgewölbe noch renoviert. Dann ist die Konservierung abgeschlossen, die vor allem der Förderverein Neues Lusthaus mit seinem Vorsitzenden Roland Ostertag durchgesetzt hat. „Stuttgart ist so arm an historischen Bauten – man durfte das Lusthaus nicht weiter verfallen lassen“, sagt er.

Einen Wiederaufbau, wie bei der Semperoper in Dresden, hält Ostertag dagegen für idiotisch: „Narben erzählen mehr von der Geschichte eines Menschen als glatte Haut. So ist das beim Lusthaus auch.“