Ayşe Şen kocht gerne einfach und unaufgeregt. Auf Instagram teilt sie mit zwei Millionen Followerinnen ihre liebsten Rezepte. Ein Besuch in ihrer Küche in Ebersbach an der Fils.

Freizeit & Unterhaltung: Anja Wasserbäch (nja)

Es ist genauso ordentlich und blitzeblank, wie man es aus dem Internet kennt. Kein einziger Krümel auf der Ablage, geschweige denn schmutzige Teller vom Mittagessen in der Spüle. Dass Ayşe Şen am Morgen noch die kleinen, feinen Dill-Käse-Kugeln gebacken hat, die sie jetzt zum Kaffee serviert, davon zeugen keine Spuren. Wahrscheinlich müsste man forensisches Gerät auffahren, um Rückstände zu identifizieren.

 

Mittlerweile folgen ihr zwei Millionen Menschen

Ayşe Şen ist das, was man vielleicht umgangssprachlich als Influencerin bezeichnen würde oder neumodisch als „Content Creator“, weil sie Inhalte kreiert: Seit fünf Jahren teilt die 35-Jährige ihr Essen auf der Schöne-Bilder-Plattform Instagram. Und das so erfolgreich, dass ihr mittlerweile zwei Millionen Menschen folgen. Zum Vergleich: Tim Mälzer, der sehr regelmäßig im Fernsehen herumschimpft, hat rund 590 000 Follower.

Foto: Davut Kültür

Mit welchem Essen wir aufwachsen, prägt uns ein ganzes Leben. Wenn man irgendwo ein Gericht isst, wie es die Oma immer gemacht hat, löst dies Emotionen aus. Und vielleicht liegt darin ein Geheimnis des Erfolgs von Ayşe Şen aus Ebersbach an der Fils: Sie kombiniert ihre türkischen Wurzeln mit einer zeitgemäßen Heute-Küche, die sich geografisch gar nicht mehr festlegen lässt. Ayşe Şens Geschichte ist zudem ein Beispiel, wie eine junge Frau durch Instagram ganz neue Möglichkeiten der Präsenz bekommt. Sie zeigt die Gerichte aus ihrem Leben, das Essen, das es jeden Tag aufs Neue zuzubereiten gilt, damit vier Menschen satt werden. Gut, günstig, einfach.

Man kann es als Influencertum abtun, würde aber der Frau und ihrer Arbeit nicht gerecht werden. Schließlich betreibt sie auch eine Art kulinarische Völkerverständigung. Ihre Rezepte sind eine gute Mischung aus türkischen Traditionsgerichten, mit denen sie aufgewachsen ist, und allerlei Einflüssen – aus der deutschen Küche (die Soßen) oder auch der italienischen (die Nudeln).

Ortstermin in einem Ortsteil von Ebersbach, am Rande des Zentrums. Ein unscheinbares Mehrfamilienhaus, Erdgeschosswohnung. Eine offene Küche, die den Blick auf das Wohnzimmer freigibt. Das Esszimmer ist ein Extraraum mit großem Zebraposter, darunter ein Sideboard, schlichte Deko.

Millionen Menschen sehen, was Ayşe täglich kocht

Hauptarbeitsplatz von Ayşe Şen ist ihre Küche. Öl, Essig, etwas frischer Basilikum in einem Alutopf, die Messer an einer Magnetwand. Das sehen Millionen Menschen auf ihrem Account Aysens.Kitchen. Und vor allem, was Ayşe Şen so täglich kocht: Sie packt Paprika, kleine Strauchtomaten, Knoblauch und Zwiebeln mit etwas Öl in den Ofen. Wenn die Paprika runzelig und durch sind, werden sie enthäutet. Ayşe Şen entfernt die Haut vom Knoblauch und auch von den Tomaten mit einer bewundernswerten Ruhe. Das Gemüse kommt mit Brühe in einen Topf, um so mit Schneebesen und etwas Sahne zu einer safranorangenen Paprikasuppe zu werden. Hinterlegt ist das Ganze mit etwas Klaviermusik. Das Besondere: Die Beschreibungen sind auf Türkisch und auf Deutsch. „Ich wollte mich nie zeigen, nicht sprechen, deshalb läuft Musik zu meinen Videos“, sagt Ayşe Şen. Ihr Kartoffelsalat ist ein gutes Beispiel, wie sie arbeitet. Im Türkischen gibt es ihn mit Mayonnaise und Joghurt, im Schwäbischen mit Brühe. Ihre Version aber ist eine mit Brühe und Mayo. Manchmal mixt sie auch Mais und Zucchini darunter.

Ayşe Şens Großeltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland. Ins Schwäbische, nach Geislingen. Die Küche, mit der sie groß wurde, ist die ihrer Mutter Neriman, die sie wiederum von ihrer Mutter gezeigt bekommen hat. „Da ging es um die Basisdinge, wie man zum Beispiel Zwiebeln andünstet“, erzählt Ayşe Şen. Schon als Kind hilft sie mit. Sie lernt, wie man türkische Eintöpfe, Suppen, Gebäck, Fleischgerichte und diesen leckeren, buttrigen türkischen Reis macht. „Ich stand schon immer gerne in der Küche.“

Sie habe nie geplant, mit ihrem privaten Kochstudio bekannt zu werden

Ihre liebste Beschäftigung war schon immer: Teig kneten. Wenn die Familie vom Sommerurlaub aus der Türkei zurückkehrt, zig Maschinen Wäsche bereitstehen, dann geht Ayşe Şen erst mal in die Küche und macht in aller Ruhe einen Teig. „Zum Ankommen“, wie sie sagt. Bei ihr hat alles seine Ordnung, alles ist sauber. Angeblich sind ihre Fans auch davon beeindruckt.

Sie habe nie geplant, mit ihrem privaten Kochstudio bekannt zu werden, erzählt sie. „Ich wollte einfach nur Rezepte teilen.“ Bis heute zeigt sie nur ihre Hände, ihre Küche, manchmal einen Blick ins Esszimmer. Zuweilen kann man ihr Gesicht erhaschen. Sie möchte nicht sprechen, sie möchte nicht im Mittelpunkt stehen, ihr gehe es ganz allein um die (Alltags-)Gerichte.

Von Ebersbach in die virtuelle Welt

Wir wurde sie, was sie heute ist? Ayşe Şen besucht die Realschule, geht dann aufs Berufskolleg und macht eine Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation. „Dann haben wir geheiratet“, sagt sie und schaut ihren Mann Muhittin an, über den sie sagt: „Er hilft mir wirklich sehr. Nicht nur beim Filmen, auch im Haushalt.“

Sie zieht zu ihm nach Ebersbach. Wird schwanger. Sie kümmert sich um Kind und Haushalt, wie es viele andere tun. Und sie kocht jeden Tag – sehr gerne. 2019 lädt sie ihr erstes Foto mit Rezept hoch: Gnocchi, Tomaten, Blattspinat, Sahnesoße. „Ayşe hilft vielen im Alltag, weil es schnelle, einfache Gerichte sind“, sagt ihr 37-jähriger Mann. „Ich hatte wirklich keine Ziele“, sagt Ayşe Şen, die inzwischen natürlich ganz genau weiß, mit wem sie Geschäfte macht. Auffällig ist, dass sie nur wenig Produkte platziert, mit nur wenigen Firmen zusammenarbeitet. Dabei kann sie sich vor Anfragen kaum retten.

Ihre Fanschar besteht zu 90 Prozent aus jungen Frauen

Ihre Zielgruppe ist zwischen 25 und 45 Jahre alt. Im Fall von Ayşe Şen sollte man die weibliche Form Followerinnen verwenden, denn ihre Fanschar besteht zu 90 Prozent aus jungen Frauen, vor allem Müttern, die nicht ewig in der Küche stehen wollen. Die Männer, die ihr folgen, kommentieren gerne ein Rezept, wenn sie sich das zum Abendessen wünschen. „Die markieren in ihren Kommentaren die Frauen“, sagt Ayşe Şen. Wenn ein Video von ihr „viral geht“, also sehr häufig angeklickt und geteilt wird (bis zu zehn Millionen Mal), dann gibt es Tage, an denen ihr Profil um Zehntausende Followerinnen wächst. Alles Zahlen, von denen viele Menschen, die das Internet als Marketingplattform verwenden, nur träumen können. Doch woher kommt ihr Erfolg?

Alle Gerichte müssen alltagstauglich und schnell umsetzbar sein

Was ihr Essen auszeichnet, ist eine sehr niederschwellige Herangehensweise. Alle Gerichte müssen alltagstauglich und schnell umsetzbar sein. Was ihre Followerinnen auch sehr schätzen: „Ihre Ordentlichkeit und ihre ruhige Art“, sagt Muhittin Şen, der auch ihr Manager ist. Er arbeitet im Schichtdienst als Anlagenführer in Scharnhausen. Wenn sie ihm Essen zur Arbeit mitgibt, dann muss es auch in der Vesperbox schön angerichtet sein – inklusive dem Blättchen Petersilie obendrauf. „Viele schreiben mir, dass sie die Videos nach der Arbeit zum Entspannen schauen“, sagt Ayşe Şen.

Ayşe Şen Foto: Davut Kültür

Auch die Coronapandemie spielte ihrer Wirkung in die Karten. Alle sind zu Hause, alle kochen, alle essen. Und wo holt man sich die Inspiration für das tägliche Mahl? Im Internet. Da kann man etwa sehen, wie Ayşe Şen Teig aus einer Tülle in Kringel auf nicht mal zigarettenschachtelgroße Backpapier-Rechtecke drückt. Dann werden sie in Öl frittiert, mit einer Pinzette gedreht. In ihrer topmodernen, gesponsorten Kaffeemaschine macht sie sich einen Cappuccino mit Milchschaum und serviert ihn zum Spritzkuchen.

Inzwischen ist auch ihr eigenes Kochbuch erschienen

Immer wenn sie kocht, filmt sie auch. Abends, wenn die Kinder im Bett sind, schneidet sie die Videos, schreibt den Text dazu, legt die Musik darunter. Zwei bis drei Stunden für 30 Sekunden. Am nächsten Tag geht das Video dann online.

Inzwischen ist auch ihr Kochbuch „Ayşes Rezepte“ erschienen, in einer türkischen und einer deutschen Version. Die englische steht als E-Book bereit. Auf dem Tisch liegt die deutsche Ausgabe mit einem Titelfoto, das Ayşe Şen mit einem ihrer beliebtesten Kuchen, dem Cheesecake mit Fruchtspiegel, zeigt. Muhittin Şen holt rasch einen Aufkleber – „Spiegel Bestseller“ steht darauf – und haftet ihn aufs Cover. Der Untertitel lautet „alltagstauglich, lecker und schnell gemacht“. Eines ihrer Lieblingsgerichte aber hat es nicht in das Buch geschafft. Gefüllte Weinblätter sind viel zu aufwendig, um als alltagstaugliches Essen durchzugehen.