StZ-Reporter Martin Tschepe hat sich 25 Jahre nach dem Mauerfall auf den Sattel geschwungen und ist mit dem Rad die ehemalige deutsch-deutsche Grenze entlang gefahren. Sein Fazit am Ende der zehn Tage langen Reise über rund 1200 Kilometer.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Dreiländereck bei Regnitzlosau - Die ersten paar dutzend Kilometer dieser allerletzten Radetappe entlang der alten Grenze, die Deutschland-Ost und Deutschland-West bis 1989 hermetisch voneinander getrennt hat, vergehen ohne Stopp an Wegesrand. Ich will nur noch ankommen am Ziel, im Dreiländereck knapp zwanzig Kilometer östlich von Hof.

 

Auf der Strecke liegt Mödlareuth. Beobachtungstürme, Warnschilder, die Reste abgebrochener Gebäude, Grenzsteine, Suchscheinwerfer. Die Amerikaner nannten Mödlareuth „Little Berlin“. Die Grenze verlief mitten durch das Dorf, wie in Berlin. Ein Teil der Betonsperrmauer ist noch erhalten. Ein paar Erwachsene und ein paar Kinder sind in den Ort gekommen, sie wollen und sollen Geschichte erleben. Für die Buben und Mädchen sind die Storys, die ihre Eltern von damals, den Zeiten vor dem Mauerbau, erzählen, Anekdoten aus einem anderen, einem völlig fremden Land.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlief die Grenze in Mödlareuth größtenteils entlang der alten, 1937 gezogenen Landesgrenzen an einem Bach. Von 1949 an durfte dieser Bach nur noch von Menschen mit Passierschein überquert werden. Später wurde ein Bretterzaun gezogen, Mitte der Sechziger dann die Betonmauer. Mödlareuth ist immer noch geteilt, ein Teil des Dorf mit seinen kaum 50 Einwohnern liegt in Thüringen, der andere in Bayern. Es gibt verschiedene Postleitzahlen, Telefonvorwahlnummern und Autokennzeichen. Immer noch ein Kuriosum, aber keines, das Angst macht.

Passender Abschluss der geschichtsträchtigen Radtour

Die vielen Radkilometer in Franken während der letzten zwei Tourtage sind für mich auch eine Reise in die eigene Familiengeschichte. Das hatte ich beim Start Anfang Oktober in Ahrensbök nicht erwartet. Immer wieder tauchen am Wegrand nämlich Schilder auf, die in Richtung Bamberg deuten. In der Stadt hat früher die Oma gelebt. Lange her, sie ist längst tot. Während der Besuche in Bamberg war mir damals, in der Siebzigern und Achtzigern, überhaupt nicht bewusst, dass die deutsch-deutsche Grenze gar nicht so weit weg ist. Die Oma hat der Zufall nach Franken verschlagen – und der deutsche Angriffskrieg. Sie musste 1945 vor den Russen aus Guben fliehen. So schließt sich der Kreis, dieser Gedanke geht mir auf den letzten Kilometern durch den Kopf.

Wenn Ahrensbök kein schlechter Ort war, um die Tour in die Vergangenheit der Republik zu starten, weil es in Ahrensbök eine Gedenkstätte gibt, die an den grausigsten Teil der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 erinnert, dann ist Franken der passende Abschluss. Ohne den von Hitler-Deutschland gestarteten Krieg hätte es nicht zum Bau des „antikapitalistischen Schutzwalls“ durch die DDR kommen können. Ohne den Zweiten Weltkrieg wäre das Land weder besiegt und besetzt noch geteilt worden. Und ohne diesem Krieg wäre auch die Oma nicht in Franken gelandet.

Der letzte Abschnitt des Grenzradwegs. Über Grobau, vorbei am ehemaligen Grenzbahnhof Gutenfürst, durch Wiedersberg, Sachsgrün, Possek – dann ein allerletztes Mal über eine Landesgrenze, von Sachsen nach Bayern. Schließlich Oberzech, das wirklich allerletzte Dorf während der Biketour von Lübeck im hohen Norden bis in den äußersten Osten Bayerns. Auf den Gassen in Oberzech ist niemand zu sehen. Der Ort wirkt wie ausgestorben. Hier kann auch vor dem Mauerfall kaum weniger los gewesen sein.

Tolle Tour, tolle Leute, tolles Land

Nur noch ein einziges mal abbiegen: das Dreiländereck ist erreicht – hier grenzen Bayern, Sachsen und Tschechische Republik aneinander. Unten in dem idyllischen Tal steht ein Schild mit der Aufschrift „Staatsgrenze“, nur ein paar Schritte weiter das nächste Schild „Ceska Republika“. Eine kleine Holzbrücke führt über einen Bachlauf. Wer hinüber geht, der ist im Nachbarland. Einfach so, ohne Passkontrolle. Davon haben viele Menschen an der ehemaligen Grenze zwischen Nato und Warschauer Pakt einst nicht einmal zu träumen gewagt. Es ist längst Alltag – und doch immer noch grandios.

Ich bin froh, dass ich die Radreise in die Vergangenheit gemacht habe und ganz gut durchgekommen bin, dass das Wetter in diesem Oktober im Jahr 25 nach dem Mauerfall mit viel Sonne und kaum Regen den runden Geburtstag ordentlich mitgefeiert hat. Und ich bin dankbar für die Treffen mit vielen interessanten Menschen auf beiden Seiten der alten Grenze. Die bleibenden Erinnerungen? Zum Beispiel das Morgengespräch mit der Bäckersfrau in Boizenburg, die aus den Nähkästchen geplaudert hat. Und die Erzählungen des US-Mayor, der 1989 beim Fall der Mauer Dienst geschoben hat auf Point Alpha, dem östlichsten Horchposten der US-Armee in Hessen. Die Einladung zum Bürgerfest in Dareskau am Einheitstag. Das Hotel Adler in Vacha, das nach der Wende von der einst enteigneten Familie wiedereröffnet wurde. Der Wirt im Schlundhaus in Bad Köningshofen, der seit fast 40 Jahren das grandios mit uralten Möbeln eingerichtete Haus mitten im Ort leitet. Die schmucke Kleinstadt Kronach, die unmittelbar nach der Wende von tausenden Besuchern aus Ostdeutschland überrannt worden ist – und heute leidet, weil die Bürger wegziehen. Eine tolle Tour, tolle Leute, ein tolles Land.

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