Millionen von Menschen leiden am Reizdarmsyndrom. Doch hinter dem Begriff verbirgt sich eine große Zahl ganz unterschiedlicher Symptome. Das erschwert eine genaue Diagnose. Neue Biomarker könnten hier Abhilfe schaffen.

Stuttgart - Von Familie und Freunden werden sie oft als Hypochonder wahrgenommen: Dauernd haben sie Bauchbeschwerden, aber die Ärzte kommen zu keiner Diagnose. Schmerzen im Bauch, Darmkrämpfe, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung, dann wieder Durchfall – ein Gemisch von unterschiedlichen Symptomen. Als einzige Erklärung fällt irgendwann der Begriff Reizdarm, der aber nichts wirklich erklärt. Die Diagnose bleibt lediglich übrig, wenn alle anderen möglichen Erkrankungen ausgeschlossen wurden.

 

Peter Layer, Internist und Chefarzt der Medizinischen Klinik des Israelitischen Krankenhauses im Hamburg, formuliert es: „Der Patient klagt über Beschwerden, die er auf den Darm bezieht – und der Arzt findet nichts.“ Kommen dann noch ein chronischer Verlauf von mindestens drei Monaten und eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität hinzu, dann steht die Diagnose Reizdarm fest. „Dies ist dann eine richtige Krankheit und muss ernst genommen werden“, so Layer.

Frauen leiden anscheinend häufiger am Reizdarm

Schätzungen zufolge leiden zwölf bis 15 Prozent der Europäer an dieser rätselhaften Erkrankung. Frauen häufiger als Männer, aber das könnte auch daran liegen, dass sie bei Beschwerden eher zum Arzt gehen. Es gibt nicht die eine Ursache für das Reizdarmsyndrom, sondern viele verschiedene. Wahrscheinlich müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. So wird etwa vermutet, dass die Nerven rund um den Darm besonders empfindlich sind und eine veränderte Aktivität aufweisen. Weitet sich der Darm aufgrund der Nahrungsmenge oder strömt mehr Wasser ein, wird das von den Nerven als Schmerzsignal ans Gehirn gemeldet.

Zudem reagiert der Darm auf Stresshormone oder andere Botenstoffe, die in der Darmschleimhaut freigesetzt werden. Dann kann es beispielsweise zu einer gesteigerten Beweglichkeit des Verdauungsorgans kommen, was als sehr unangenehm empfunden wird. Darüber hinaus kann die Permeabilität der Darmwand erhöht sein, das heißt die Barriere zwischen dem Darminhalt mit seinen Abermillionen von Bakterien und dem Körper funktioniert nicht, wie sie sollte.

Wird die Darmwand für Mikroorganismen in gewissem Maß durchlässig, reagiert das Immunsystem und es kommt zu vielen kleinen Entzündungen, die sich in ihrer Gesamtheit krankmachend auswirken können. Die Störung der Darmbarriere kann durch eine ungünstige Bakteriengemeinschaft im Darm hervorgerufen werden – verursacht durch Antibiotika-Behandlungen oder eine Darminfektion, aber auch durch bestimmte Nahrungsbestandteile.

Biomarker könnten die Diagnose bei Reizdarm verbessern

Besonders wichtig bei Patienten mit einem vermuteten Reizdarm ist eine ausführliche Diagnose. Erst wenn alle Krankheiten, die ähnliche Symptome zeigen, ausgeschlossen wurden, steht die Diagnose fest. In Zukunft könnte es einen schnelleren Weg geben, um eindeutige Diagnosen zu stellen. Verschiedene Forschergruppen arbeiten an Biomarkern zum Thema Reizdarm. Das sind objektiv messbare, biologische Merkmale, die eine Krankheit anzeigen und oft auch einen Hinweis auf den Auslöser geben.

Michael Schemann vom Lehrstuhl für Humanbiologie der TU München sagt: „Bisher werden Magen-Darm-Beschwerden nur aufgrund des Ausschlussprinzips diagnostiziert. Uns ging es darum, einen Biomarker zu finden, der ein Reizdarmsyndrom zumindest bei einer bestimmten Patientengruppe anzeigt.“

Ein interdisziplinäres Team mehrerer Kliniken in Europa unter Schemanns Leitung untersuchte die veränderte Aktivität der Nerven in der Darmwand. Sie fanden bestimmte Proteasen, die von der Darmschleimhaut freigesetzt werden und eine nervenaktivierende Wirkung haben. Nur bei Patienten mit Reizdarmsyndrom liegen diese eiweißabbauenden Enzyme in erhöhter Konzentration vor – nicht bei Gesunden und auch nicht bei Patienten mit anderen chronisch entzündlichen Darmerkrankungen.

Noch suchen die Mediziner kostengünstigere Verfahren

Doch Schemann dämpft allzu hohe Erwartungen: „Man muss davon ausgehen, dass es nie den einen Biomarker geben wird. Reizdarmpatienten mögen vergleichbare Symptome haben, die Ursachen sind jedoch mannigfaltig.“ Zudem können die von ihm und seinem Team entdeckten Proteasen noch nicht in der Routinediagnostik genutzt werden, da dies viel zu teuer wäre. „Um Biomarker in die Klinik zu bringen, müssen kostengünstigere Verfahren entwickelt werden.“

Bis dahin bleibt Ärzten nichts anderes übrig, als alle Krankheitsoptionen mit ähnlichen Symptomen zu prüfen. Dazu gehören etwa Medikamentennebenwirkungen, Zöliakie, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Darmkrebs oder auch Eierstocktumore. Wenn die Diagnostik einmal richtig durchgeführt sei, könne man sich jahrelang darauf stützen, so der Experte.

Patienten können im Rahmen einer Ernährungsberatung Diäten ausprobieren

Die Behandlung ist alles andere als einfach. Aufgrund der verschiedenen Ursachen gibt es viele Stellschrauben, an denen man drehen kann. „Kausal kann noch nicht therapiert werden, nur symptomatisch“, so der Gastroenterologe Johann Ockenga vom Klinikum Bremen-Mitte. Man muss also auf den Gebieten Ernährung, Psyche und Lebensführung ausprobieren, was dem Patienten Linderung verschafft. Neben regelmäßigen Mahlzeiten und genug Schlaf wird Sport empfohlen. Im Rahmen einer Ernährungsberatung können verschiedene Diäten getestet werden. Ockenga rät jedoch, die Versuche nicht zu lange auszudehnen.

Eine vermehrte Ballaststoff-Aufnahme hat meist nur einen moderaten Effekt, oft geht es den Patienten sogar schlechter. In letzter Zeit wird häufig die Low-FODMAP-Diät als Behandlungsoption empfohlen. Dabei muss ein individueller Kostaufbau erfolgen, was jedoch oft ignoriert wird. Etwa 70 Prozent der Reizdarm-Patienten scheinen von der Low-FODMAP-Diät zu profitieren, aber eine spezifische Wirkung wurde bis jetzt nicht nachgewiesen. Experten nehmen an, dass der Placebo-Effekt eine größere Rolle spielt – wie auch bei den Probiotika.

Da bei Reizdarmpatienten die Vielfalt der Darmbakterien reduziert ist, versucht man, das Defizit auszugleichen. Doch nicht jeder spricht auf das gleiche Probiotikum an: Wer besonders unter Schmerzen und Blähungen leidet, dem hilft eventuell ein Präparat mit Bifidobakterien, bei Verstopfung kann ein Probiotikum mit Lactobacillus Besserung bringen. Auch hier gilt es auszuprobieren, was einem gut tut.

Die FODMAP-Diät hilft bei der Einschätzung der Erkrankung

FODMAP ist die Abkürzung für fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide und Polyole. Dahinter verbergen sich Kohlenhydrate und Zuckeralkohole, die im Dünndarm schlecht resorbiert werden und daher unverändert in den Dickdarm gelangen. Die dort ansässigen Bakterien fermentieren sie, wodurch Schmerzen, Blähungen und Verdauungsstörungen entstehen können.

Besonders Reizdarm-Geplagte scheinen empfindlich auf diese Stoffe zu reagieren. FODMAPs sind in vielen, meist pflanzlichen Lebensmitteln enthalten, die eigentlich als gesund gelten: Weizen, Gerste und Roggen, Zwiebeln und Lauchgewächse, Hülsenfrüchte, Spargel, Zuckerschoten, Apfel, Birne, Kirsche, Wassermelone, Honig, Milch, Joghurt und der oft in Süßigkeiten zu findende Glukose-Fruktose-Sirup sind nur einige Beispiele für ihr Vorkommen.

Risiken
Bei der Low-FODMAP-Diät werden diese Kohlenhydrate und Zuckeralkohole möglichst vermieden. Da eine einseitige Ernährung gesundheitliche Risiken birgt, sollte dies nur unter ärztlicher Aufsicht oder begleitet von einer Ernährungsfachkraft geschehen. In dieser Phase, die etwa sechs bis acht Wochen dauert, verbessern sich bei vielen der Reizdarmpatienten die Symptome. Anschließend werden die FODMAPs einzeln für etwa eine Woche wieder in die Ernährung eingeführt. So kann der Patient erkennen, welche Inhaltsstoffe die Beschwerden verursachen, und diese künftig meiden.