Vor zehn Jahren wäre Recep Arziman fast in seinem Auto verbrannt. Die Folgen des Unfalls begleiten ihn für den Rest seines Lebens.

Stuttgart - Das Loch in seinem Ellenbogen geht fast bis auf den Knochen: Recep Arziman hat sich an einer Metalltür gestoßen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, täglich stoßen sich Menschen die Ellenbogen an irgendwelchen Türen. Doch Arziman muss besser aufpassen als andere, denn seine Haut ist dünn wie Pergament. In der Diktion der Mediziner ist er „70 Prozent KOF“ – ein Laie würde sagen: Mehr als zwei Drittel seiner Körperoberfläche sind mit Narben übersät. Sein Gesicht ähnelt einer Maske aus Wachs. Arziman sieht aus wie ein Greis, doch der Mensch hinter den Narben ist erst Anfang dreißig.

 

Arziman sitzt auf einer frisch bezogenen Liege im Behandlungszimmer des Stuttgarter Marienhospitals. Er ist zur Nachbehandlung gekommen. Der Weg in die unfallchirurgische Ambulanz ist für ihn Routine, er fährt ins Krankenhaus wie andere in den Supermarkt. Neben ihm sitzt Matthias Rapp, der als Oberarzt für die Behandlung Schwerbrandverletzter verantwortlich ist. „Es gibt Brandverletzte mit kleineren Wunden, die deutlich mehr leiden als Recep“, sagt er, streift sich Einmalhandschuhe über und begutachtet das Loch im Arm. „Verbrennungen hinterlassen nicht nur optische, sondern auch seelische Narben.“ Vorsichtig beginnt der Mediziner, die überschüssige Hornhaut von Arzimans Ellenbogen mit einer Pinzette zu lösen.

Seit 1983 gibt es am Marienhospital das Zentrum für Schwerbrandverletzte, wöchentlich wird hier eine sogenannte Verbrennungssprechstunde angeboten. Immer mittwochs, von eins bis halb vier am Nachmittag. Die Nachfrage ist riesig: rund 1100 Termine vergab das Klinikum allein im vergangenen Jahr. Auch an diesem Tag sind Betroffene von weither angereist, um ihre Narben behandeln zu lassen – und sich mit anderen Brandverletzten auszutauschen: An die Sprechstunde ist eine Gesprächsrunde gekoppelt. Daran nehmen Betroffene und Angehörige ebenso wie Pflegekräfte und Therapeuten teil. Das Wartezimmer ist voll.

Den Ehemann und vierzig Prozent der Haut verloren

Auch Eva Aumann sitzt dort. Die Mitinitiatorin der außergewöhnlichen Gesprächsrunde verlor bei einer Gasexplosion vor fünfzehn Jahren ihren Ehemann, einen Finger und vierzig Prozent ihres größten Organs, der Haut. Den Weg zurück ins Leben musste sie sich erkämpfen. Lange war sie auf Hilfe angewiesen.

Mittlerweile hilft Eva Aumann anderen. Sie trat Cicatrix bei, einer Gemeinschaft für Menschen mit Verbrennungen und Narben. Als regionale Ansprechpartnerin für Baden-Württemberg und das südliche Bayern gibt sie ihre Erfahrungen weiter. Im Wartezimmer des Marienhospitals verteilt sie Informationsbroschüren ihres Vereins, hört sich die Sorgen und Nöte anderer Betroffener an. Heute begleitet sie Recep Arziman. „Menschen wie Recep dürfen in unserer Gesellschaft nicht wie Aussätzige behandelt werden“, sagt sie. „Der Mensch hinter den Narben ist doch immer noch der gleiche. Damit die Betroffenen den Reaktionen anderer standhalten können, müssen wir ihr Selbstbewusstsein stärken.“

Arziman ist es gewöhnt, dass er von Wildfremden auf der Straße angestarrt wird wie ein exotisches Zootier. Auch verletzende Sprüche gehören zum alltäglichen Spießrutenlauf. „Ich hasse die Leute auf der Straße“, sagt er, „doch mittlerweile blaffe ich zurück.“ Was wünscht er sich? „Dass man Menschen wie mir eine Chance gibt“, sagt er und zuckt im selben Moment zusammen – Rapp hat erneut einen kleinen Fetzen Haut von der Wunde abgezogen. Tut’s weh? fragt der Arzt. „Es ist ein bisschen unangenehm“, entgegnet Arziman.

54 große Operationen, 54 Vollnarkosen

Die heutige Behandlung ist eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was Arziman bereits über sich ergehen lassen musste. 54 große Operationen, 54 Vollnarkosen. Eine Bilanz, die er scherzhaft kommentiert: „Mittlerweile bin ich ein richtiger Narkosejunkie.“ Wenn er lacht, wirken seine vernarbten Gesichtszüge angespannt, viel Mimik lässt seine Haut nicht mehr zu.

Arziman, deutscher Staatsbürger mit türkischen Wurzeln, kramt sein Handy hervor und zeigt ein Bild aus früheren Zeiten. „So habe ich vor dem Unfall ausgesehen.“ Das Foto zeigt einen attraktiven Mann Anfang zwanzig mit dunkelbraun gelockten Haaren. Einzig die markanten Augen verraten, dass die Person auf dem Bild dieselbe ist, die gerade das Handy hält.

„Die Wunde sieht schon viel besser aus“, muntert Rapp seinen Patienten auf. Der Mediziner beginnt damit, Arzimans Ellenbogen einzucremen und erklärt nebenher, wie empfindlich die Haut eines Schwerbrandverletzten ist. „Sie hat die Fähigkeit verloren, ihren Fett- und Feuchtigkeitsgehalt selbst zu regulieren.“ Deshalb müsse der Betroffene sie ein Leben lang pflegen. Die Salben sind teuer, rund 200 Euro monatlich, die meisten Krankenkassen weigern sich, die Kosten zu übernehmen.

Meilensteine der Medizin

Eva Aumann sagt, dass viele Brandverletzte und auch deren Angehörige im Umgang mit Versicherungen und Behörden überfordert sind. „Wir erklären ihnen, welche Rechte sie haben und helfen ihnen bei den wichtigsten Antragstellungen.“

Der Oberarzt Rapp legt eine Art Mullbinde auf Arzimans Ellenbogen. „Das ist eine Fettgaze, darüber kommt ein Salbenverband.“ Vorsichtig drückt er das weiße Netz auf Arzimans geschundene Haut. „Sie eignet sich besonders gut bei nässenden Wunden, da sie nicht so leicht verklebt.“

Die Möglichkeiten zur Behandlung von Schwerbrandverletzten haben sich in den letzten Jahren stetig verbessert. Verletzungen, die früher Siechtum bedeuteten, können heute dank des Fortschritts der Intensivmedizin so weit kuriert werden, dass die meisten Betroffenen ins Leben zurückfinden. Im Marienhospital stehen zwei klimatisierte, komplett sterile Spezialräume bereit, ein dritter ist schon genehmigt. „In diesen Zimmern können wir die Temperatur hochfahren und die Luftfeuchtigkeit regulieren“, erklärt Rapp. „Dadurch verhindern wir bei Patienten mit akuten Brandwunden, dass sie unterkühlen und zu viel Flüssigkeit über die Wunden verlieren.“

Ein weiterer Meilenstein der Medizin: „Heute behandeln wir Brandwunden in der Regel mit einem temporären Hautersatz“, sagt Rapp, der maßgeblich an der Entwicklung von Suprathel, einer künstlich hergestellten Membran, beteiligt war. „Das Material schmiegt sich wie eine zweite Haut auf die betroffenen Stellen, stimuliert die Wundheilung und minimiert das Infektionsrisiko“, sagt er und packt einen Bogen Suprathel aus. Rapp demonstriert die Elastizität der weißen Membran, zieht sie weit auseinander und stülpt sie über seine Finger. „Bis zur vollständigen Abheilung bleibt die Membran auf der Haut, danach löst sie sich schmerzfrei von alleine.“

Eine Baseballmütze à`la Niki Lauda

Wunder dürften Schwerbandverletzte dennoch nicht erwarten. „Wer von mir verlangt, dass er nach der Behandlung genauso aussieht wie vor dem Unfall, den muss ich leider enttäuschen“, sagt Rapp. „Im ersten Schritt geht es vor allem darum, das physische Leid der Patienten zu lindern.“ Dann machen sich die plastischen Chirurgen ans Werk, doch auch diese Kunst hat Grenzen.

Was danach noch möglich ist, etwa Permanent-Make-up, fällt unter die Rubrik Kosmetik. Manches gibt’s beim Drogeriemarkt um die Ecke, anderes ist nur mit viel Aufwand zu bekommen. So ist Eva Aumann für eine Haarstammzellen-Transplantation extra in die Niederlande gereist. „Gerade für uns Frauen sind die kahlen Stellen auf dem Kopf besonders schlimm“, sagt sie. „Ich möchte Betroffenen Mut machen und aufzeigen, was kosmetisch möglich ist.“

Recep Arziman trägt meistens Glatze, manchmal bedeckt er sie mit einer Baskenmütze, manchmal à la Niki Lauda mit einer Baseballkappe. So auch heute. Seine Behandlung ist für diesen Tag beendet. Er bedankt sich bei seinem Arzt und verabschiedet sich im Vorzimmer mit einem Küsschen links und einem Küsschen rechts von Frau Fümel und Frau Lorenz. „Die haben oft ein Stück Kuchen für mich“, erzählt er. Doch die beiden Damen vom Sanitätshaus sind eigentlich nicht hier, um Patienten mit Gebäck zu beglücken, in erster Linie lassen sie für Brandverletzte Bandagen und Kompressionskleidung aus Silikon anfertigen. Kompression ist für das vernarbte Gewebe extrem wichtig.

Der Traum von einem normalen Leben

Auf dem Weg nach draußen sagt Arziman unvermittelt: „Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint“, und er schwärmt von seiner hübschen Frau. „Wir lernten uns erst nach meinem Unfall kennen, sie akzeptiert mich so, wie ich bin.“ Einunddreißig ist er nun, er träumt von einer Eigentumswohnung und hätte gerne Kinder. Womöglich hätte er diese Ziele längst erreicht, wäre nicht dieser schrecklichen Unfall passiert, der sein Leben für immer veränderte.

Es ist ein Nachmittag im Januar 2002 und bereits dunkel, als Arziman von der Arbeit nach Hause fährt. Müde von der Schufterei auf einer Baustelle schläft er am Steuer ein. Sein Wagen, ein Audi 80, gerät von der Fahrbahn und steuert mit hoher Geschwindigkeit auf eine Baumreihe zu. Arziman wird erst durch den Aufprall wach. „Es gab einen Wumm, und danach stand alles in Flammen“, erzählt er, als würde er ein Tonband abspulen. „Mein Verstand hat die ganze Zeit gut funktioniert. Deshalb habe ich es wohl auch geschafft, mich aus dem Auto zu befreien.“ Arziman kann sich noch daran erinnern, dass sein gesamter Körper brannte. Auch weiß er noch, dass ein Auto anhielt und eine Frau auf ihn zugelaufen kam. „Sie hat instinktiv das Richtige getan“, erzählt er, „sie hat mich im Schnee hin und her gerollt und sofort den Notarzt verständigt.“ Als der Rettungshubschrauber über Arziman kreist, verliert er das Bewusstsein.

Erst drei Monate später wacht er in der Ludwigshafener Unfallklinik auf. Die Ärzte mussten ihn in ein künstliches Koma legen. Die Langzeitnarkose war nötig, um seinen Organismus zu entlasten, da die körpereigenen Rettungssysteme überfordert gewesen wären. „Als ich nach der langen Zeit zu mir kam, wusste ich sofort, was passiert war.“ Er bat die Ärzte, ihm einen Spiegel zu geben, doch sie weigerten sich zunächst. Als er sich drei Tage später das erste Mal sah, wurde er sofort ohnmächtig.

Heute hilft Arziman anderen

Neun Monate verbrachte Arziman in der Klinik und sieben weitere im Rollstuhl. Heute kann er wieder laufen, doch sein Weg zurück in den Alltag war schmerzhaft. „Ich habe mich die erste Zeit nicht unter die Leute getraut.“ Seine Familie und seine Freunde hätten immer hinter ihm gestanden. „Ich bin Gott wegen all dem nicht böse“, sagt er, und dass er sich mit seinem Schicksal abgefunden habe: „Nur mein Gesicht, das hätte ich gerne behalten.“

Inzwischen setzt sich Arziman für andere Schwerbrandverletzte ein, auch er ist Mitglied bei Cicatrix. Buse Kamali liegt ihm besonders am Herzen. Der Körper des türkischen Mädchens ist stark entstellt, seit ein Transistorradio direkt über ihrem Kopf explodiert war. „Als Buse mich zum ersten Mal sah, rief sie, ‚der sieht ja genauso aus wie ich‘, und von da an war der Bann gebrochen.“ Arziman sammelt Spenden für Buse Kamali, fährt mit ihr quer durch Deutschland und die Türkei. „Sie braucht Geld für die teuren Behandlungen“, sagt er. Auch das Marienhospital beteiligt sich, in der Klinik wird die mittlerweile Neunjährige regelmäßig kostenlos untersucht.

„Die Kleine ist für mich wie eine Tochter“, sagt Arziman, als er das Klinikum durch die große Eingangstür verlassen hat. Er holt eine Schachtel aus seiner schwarzen Lederjacke, steckt sich eine Zigarette an und atmet den Tabak tief ein. Dann verabschiedet er sich und läuft zu seinem Auto. Passanten glotzen ihn an. Recep Arziman geht aufrecht an ihnen vorbei.

// Weitere Informationen für Betroffene unterwww.cicatrix.de