Beweise, dass es tatsächlich Mord war, sind kaum zu bekommen. In besonders schweren Momenten geht Ludmilla Karpenko zum Kleiderschrank, um ihren Mann noch einmal zu riechen, ihm nah zu sein. Immer wieder versucht sie, die Journalistin zu sehen, die ihn zum Treffen gebeten hatte. Immer lehnt diese ab. Bis Ludmilla Karpenko ihr eines Tages auf der Straße begegnet. „Was ist passiert“, fragt sie. Die Frau fragt zurück: „Träumen Sie von Ihrem Mann? Vermissen Sie Ihn?“ Sie habe neulich in einem Traum gesehen, wie Gennadi Karpenko seine Frau rufe. „Sie müssen zu ihm, Sie müssen ihm folgen“, sagt die Frau. Ludmilla Karpenko stockt der Atem. Wohin soll sie ihrem Mann denn folgen, wenn nicht auf den Friedhof? Ist das eine Aufforderung zum Selbstmord?

 

Seit drei Jahren lebt Ludmilla Karpenko in Esslingen. „Hier hört mich niemand ab, hier kann ich jederzeit ohne Angst auf die Straße gehen“, sagt sie. Sie ist den Esslinger Freunden und Bekannten grenzenlos dankbar. Im Sommer wird sie Deutsche werden. Den Einbürgerungstest mit den 300 Fragen hat sie bereits bestanden. Ihre Kinder haben sich gut integrieren können, haben studiert und leben nun mit ihren Familien in Frankfurt und Köln. Wann immer es geht, besucht Karpenko sie.

Ein gutes Ende? „Nun ja,“, sagt Ludmilla Karpenko. Sie zieht die Schultern hoch und lächelt unbestimmt. Ihre Kinder haben den Neuanfang besser meistern können als sie. Deutsch hat sie nie richtig gelernt. Das Land, dass sie im Moment höchster Not mit offenen Armen aufgenommen hat, ist ihr trotz allem fremd geblieben. Die Revolution in der Ukraine ist ihr viel näher als die deutsche Tagespolitik. Will sie nach Belarus zurück? „An dem Tag, an dem Lukaschenko stirbt, kaufe ich mir ein Flugticket“, sagt sie. Sie hat sich fest vorgenommen, ihren ärgsten Feind zu überleben.