Im Stuttgarter Theaterhaus haben Egon Madsens „Greyhounds“ Premiere gehabt: ein Quartett über alternde Tänzer, die Freuden und Leiden der Profession und zugleich eine Allegorie über die Lebensreise.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Tja, warum machen die das? Wo sie doch etwas „Entspannteres“ tun könnten, als hier auf der Bühne herumzuturnen? Egon Madsen, der im schwarzen Anzug vors Publikum tritt, ganz der seriöse Herr mit schlohweißem Haar, kommt am Sonntagabend nicht weit mit seinen Erklärungen: Mikro-Störung. Aber warum mit Worten argumentieren, wenn es der Körper doch viel besser kann? Und schon streicht Madsens rechter Arm die Flanke seines Oberkörpers auf und nieder, beginnen die Füße auszuschreiten.

 

Egon Madsen, eine der Legenden des Stuttgarter Ballettwunders, mehrere Jahre Künstlerischer Leiter des NDT III, der „Senioren“-Kompanie des niederländischen Renommee-Balletts, Tanzgefährte von Eric Gauthier, tut das, was er sein Leben lang gemacht hat: tanzen. Ruckelig, wie eine rostige Maschine zuerst; zaghaft, dann immer geschmeidiger, dabei viele Fragen stellend: warum tanzen, nachdem man doch aufgehört hat? Was hat es mit uns damals gemacht? Wie geht Tanzen heute, wo wir nicht mehr jung sind? Und warum, verdammt, lässt es uns nicht los?

Egon Madsen hat seine Tanzproduktion „Greyhounds“ genannt, nach den nordamerikanischen Langstreckenbussen – eine griffige Metapher für die Reise durchs Tänzerleben, die er als Künstlerischer Leiter in der folgenden so kurzweiligen wie mitreißenden Stunde in Szene setzt. Greyhounds, das weckt auch andere Assoziationen: graue Hunde, alte Hasen, und genau mit solchen besteigt Madsen den Bus: Marianne Kruuse, Julia Krämer und Thomas Lempertz sind Ehemalige und Weggefährten, die das Solisten-Land längst hinter sich gelassen haben.

Unterwegs mit leichtem Gepäck

Gemeinsam machen sie sich an dem in sieben ineinanderfließende Abschnitte unterteilten Uraufführungs-Abend im Theaterhaus noch einmal auf den Weg, durchstreifen im praktischen Reise-Outfit – beiger Trenchcoat, schwarze Hosen, Hut – Erinnerungen, Gefühlszustände, Gedanken. An Requisiten brauchen sie nicht viel, mit kleinem Gepäck reist es sich besser: ein roter, mit weißer Schrittfolgen-Grafik bedruckter Vorhang, dazu ein weißer Tisch, ein paar Stühle, los geht’s.

Die Stühle zu Sitzreihen wie im Bus zusammengeschoben, zuckeln die Greyhounds durch die Nacht, mit steifen Gliedern, schmerzendem Rücken, wie hat man Körper und Seele damals geschunden! Dann schleichen sie sich ins Tanzstudio, und plötzlich kommt alles wieder hoch: die Träume, die Erfüllung, die Ängste – und die Motive für den Ausstieg damals.

„Das Aufhören ist mir nicht schwer gefallen“, hört man Marianne Kruuse aus dem Off sagen, die als Erste Solistin unter John Cranko und John Neumeier tanzte und als stellvertretende Leiterin der Hamburger Ballettschule ihre „Erfahrung weitergeben“ konnte. Während die Über-Siebzigjährige voller Anmut über die Vergangenheit nachsinnt, begegnet Julia Krämer, 47, einst Erste Solistin am Eckensee, nun Tanzpädagogin und Mutter von zwei Kindern, im Spiegel sofort wieder ihren Versagensängsten. Thomas Lempertz, 41, früherer Solist beim Stuttgarter Ballett, empfand den Tanz zuletzt als „Korsett“ und zeigt, wie er auf fremdem Terrain, der Mode, die ersten ungelenken Schritte setzte. Und schließlich der 73-jährige Egon Madsen, dessen Reise wohl nie endet: „Ich tanze immer, so wie ich bin als Mensch.“

Gewitzte Bilder und Posen

Die vier Darsteller/Tänzer haben, zu Beginn unterstützt vom israelischen Choreografen Amos Ben-Tal, die erste Hälfte des Abends aus ihren Biografien und Persönlichkeiten selbst entwickelt; was sie präsentieren, ist ein leichtfüßiges, unterhaltsames Tanztheater-Bewegungsspiel, in dem sie oft gewitzte Bilder und Posen finden. Zwei Soli für die beiden Jüngeren im generationenübergreifenden Tanzprojekt, kreiert von den Choreografie-Größen Mauro Bigonzetti und Marco Goecke, ermöglichen tanzkünstlerische Tiefe. Julia Krämer spürt zu Vassilis Tsabropolous Klavierstück „Melos“ Fluch und Segen des Ballerina-Daseins nach. Eruptionen gleich lässt Bigonzetti die in endlosen Trainingseinheiten eingehämmerten Bewegungsabfolgen aus ihr herausbrechen. Zwischen Erinnerungsseligkeit und -verzweiflung hin- und hergerissen, gelingt schlussendlich die Befreiung mit einem Fingerschnipsen.

Das maskuline Pendant liefert Marco Goecke. Er packt für Thomas Lempertz, zu Jeff Buckleys röhrendem Rock, Tanzdrill, Nervosität, Verausgabung bis zur Erschöpfung und den kurzen Moment der Glückseligkeit in seine rasanten Bewegungs-Stakkati. Lempertz’ Solo gerät so zur eindrucksvollen Demonstration tänzerischer Höchstleistung nach immerhin zwölfjähriger Auszeit; stark aber auch, wie der heutige Kostümbildner bis zum letzten Luft-Schnapper seine Rolle durchdringt.

Von dieser Power setzt sich die Zärtlichkeit von Kruuse und Madsen ab, die eine gereifte Version ihres Pas de deux aus Neumeiers 1968 kreierter Choreografie „Separate Journeys“ präsentieren. Während sie damals mit Tanzkunst in Vollendung fesselten, vollbringt das heute ihr rührender Dialog von Blicken und Händen. Das „Finale“ zu Tiger Lillies’ „Freakshow“ trägt unverkennbar die Handschrift von Eric Gauthier. Mit seinem Gespür für Entertainment und Effekte katapultiert der Theaterhaus-Choreograf Egon Madsen auf den Tisch, wo er zigarrenpaffend den wilden Hengst mimt; und Julia Krämer behilft sich mit dem rollenden Bürostuhl, um Tempo in die Tutu-Darbietung jenseits der Vierzig zu bringen. Geht doch auch so!

Warum Tanzen? Es ist die Lust an der Performance, am Rollenspiel, am Hochgefühl der Bühnenshow – und am Leben schlechthin, und sie endet nie.