Nach einem nur 18 Tage dauernden Wahlkampf sind die Menschen in Libyen am Samstag dazu aufgerufen, eine Volksversammlung zu wählen. Knapp 80 Prozent der Wahlberechtigten haben sich registrieren lassen.

Tripolis - Jahrzehntelang kannte Tripolis nur ein Gesicht – das von Muammar al Gaddafi. Jetzt lächeln Hunderte Menschen von Großplakaten herab auf die Passanten. Wahlkampf in Libyen, 18 Tage sind erlaubt, am Samstag wird abgestimmt. Und mit einem Schlag verwandelten sich letzte Woche Straßen und Brücken, Hausfassaden und Supermarktfenster in ein politisches Panoptikum aus Farben, Personen, Parteinamen und Parolen.

 

142 Parteien sind angetreten. 3707 Kandidaten, darunter 629 Frauen, konkurrieren um die 200 Sitze in der Volksvertretung Libyens. Wochenlang hatten bereits Großposter in Tripolis und Bengasi, in Zintan und Al Baida für die Teilnahme an den ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes geworben. Ein Arzt, ein Iman, ein schwarzer Bauarbeiter mit Helm – sie alle hielten für alle sichtbar stolz den ersten Wahlzettel ihres Lebens in den Händen.

Neuer Nationalrat wählt einen Übergangspräsidenten

Und tatsächlich, das Interesse ist enorm. 2,7 der 3,4 Millionen Wahlberechtigten haben sich registrieren lassen. Sie erhoffen sich von der Premiere an den Urnen einen ersten großen Schritt zur Normalisierung ihres Landes. Denn der neue Nationalrat wird nach dem Beispiel Tunesiens zunächst einen Übergangpräsidenten wählen sowie einen Premierminister samt Übergangskabinett, das den bisherigen Provisorischen Nationalrat (NTC) ablösen soll. Zudem wird er aus seinen Reihen eine 60-köpfige Verfassungsgebende Versammlung nominieren, die dann innerhalb von vier Monaten ein Grundgesetz für das ölreiche nordafrikanische Land ausarbeiten soll. Läuft alles nach Plan, werden in einem Jahr, im Sommer 2013, auf der Basis der neue Verfassung dann Staatschef, Parlament und Regierung für eine erste Legislaturperiode gewählt.

Die Schatten des Bürgerkrieges bleiben unkalkulierbar

Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Die Schatten des Bürgerkrieges bleiben lang und unkalkulierbar. In Bengasi wurde das Büro der Hohen Wahlkommission verwüstet. Zuvor hatte es Angriffe auf das tunesische und amerikanische Konsulat gegeben, waren britische Diplomaten sowie Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes beschossen worden. Islamistische Milizen rissen Wahlplakate herunter, weil Demokratie in ihren Augen nicht mit dem Islam vereinbar ist. Andere kreuzten mit einem lärmenden Autokorso vor dem ehemaligen Hauptquartier der Aufständischen an der Corniche auf, schossen Salven in den Himmel und forderten die Einführung der Scharia, bis beherzte Bürger sie mit eilig gemalten Plakaten „Libyen ist nicht Afghanistan“ vertrieben. „Es gibt immer irgendwelche Elemente, seien es frühere Regimeanhänger, seien es demokratiefeindlichen Gruppen, die die Wahlen stören wollen“, erklärt Mahmoud Jibril, erster Übergangspremier der Rebellen bis zum Oktober 2011. Jibril kandidiert jetzt an der Spitze des säkularen Parteienbündnisses „Allianz der Nationalen Kräfte“ für den zukünftigen Nationalrat.

Jeder Libyer ist in Besitz einer Waffe

40 000 unbewaffnete Polizisten sollen während der Wahl vor den Wahllokalen präsent sein, aber auch Einheiten der Armee halten sich nach Angaben der Behörden bereit. Die eigentlichen Herren auf den Straßen aber sind nach wie vor die bewaffneten Milizen. Praktisch jeder Libyer hat inzwischen eine Waffe, zu jeder Zeit und an jeder Ecke kann plötzlich ein Feuergefecht ausbrechen, auch wenn das Leben in den beiden urbanen Küstenzentren Bengasi und Tripolis größtenteils ruhig verläuft. Dafür halten blutige Kämpfe im Süden und Westen des Landes die Öffentlichkeit in Atem. In der Region von Zintan in den Nafusa-Bergen, wo eine der mächtigsten Revolutionsbrigaden ihren Sitz hat, brach im Juni ein Konflikt zwischen verfeindeten Stämmen aus, der mehr als 100 Menschen das Leben kostete. In der westlichen Oasenstadt Ghadames, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, gerieten Araber und Tuaregs aneinander. Im südlichen Kufra, wo 40 000 Menschen leben, kämpfen seit Monaten Araber gegen Afrikaner sowie Revolutionäre gegen Anhänger des alten Regimes. Ganze Wohnviertel wurden unter Feuer genommen. Zuletzt starben im Juni 50 Menschen, im Februar hatten bei ähnlichen Zusammenstößen bereits über 100 Bewohner der Provinz ihr Leben gelassen.

Amnesty International ist in Sorge

Und so warnte Amnesty International kürzlich in einem dramatischen Appell, die bewaffneten Gruppen könnten den fragilen Übergangsprozess komplett zerstören. „Es ist sehr niederschmetternd zu sehen, dass es der Regierung auch nach so vielen Monaten nicht gelungen ist, den Würgegriff der Milizen zu brechen“, beklagte die Menschenrechtsorganisation. Wenn aber Gesetzlosigkeit und Übergriffe nicht bald gestoppt würden, „besteht die Gefahr, dass Libyen wieder dieselben Muster an Missbräuchen entwickelt, die wir bereits in den vergangenen vier Jahrzehnten erleben mussten“.