Die Knochen des Australopithecus sediba faszinieren Forscher weltweit. Denn sie werfen ein ganz neues Licht auf die Geschichte des Menschen.

Stuttgart - Früher war alles noch so einfach. Nachdem die Wissenschaft nicht mehr an der für viele anstößigen These vorbeikam, dass wir Menschen und unsere affigen Zeitgenossen gemeinsame Vorfahren haben müssen - eine These, die später von Funden unserer versteinerten Urahnen in Afrika bestätigt wurde - kam es nur noch darauf an, diese Funde in einer Linie aufzureihen, die den allmählichen Aufstieg nachvollzog: vom Uraffen über den Vormenschen Australopithecus und die ersten Erscheinungsformen der Gattung Homo bis zum Homo sapiens.

 

Das Verfahren komplizierte sich, als immer mehr Fossilien gefunden wurden. Die immer vielfältigeren Varianten ließen sich bald nicht mehr in einer einzigen Linie aufreihen. So musste von einem Stammbaum mit Verzweigungen geredet werden.

Handelt es sich um eine "Abart" oder unsere Ahnen?

Obwohl dieses Entwicklungsmodell anerkannt ist, bleibt strittig, wer zum in die Baumkrone der Schöpfung führenden Stamm gehört und was "bloße" Verästelungen sind. Denn natürlich will jeder Wissenschaftler seinen Fund als einen unserer Ahnen und nicht als gescheiterte "Abart" betrachtet wissen.

Seit Donnerstag wird diese Debatte noch etwas heftiger geführt, nachdem ein Wissenschaftlerteam um den in Südafrika lehrenden amerikanischen Paläoanthropologen Lee Berger im Magazin "Science" eine Artikelserie veröffentlichte, die auf genauere Studien von "MH-1" und "MH-2" basieren.

Der sensationelle Fund der beiden als neue Spezies definierten Urmenschen (Australopithecus sediba) war bereits vor einem Jahr bekanntgegeben worden: Es handelt sich um Skelettteile eines vermutlich rund zwölf Jahre alten Jungen und möglicherweise seiner knapp 30-jährigen Mutter, die in der fossilienreichen "Wiege der Menschheit" wenige Kilometer außerhalb Johannesburgs gefunden wurden und schon alleine wegen ihrer Zahl und ihres guten Erhaltungszustands die Fachwelt elektrisierten.

Begeistert zeigt sich Bergers 85-köpfiges Team vor allem darüber, dass die Skelettteile die für die Entwicklung des Menschen besonders bedeutenden Bereiche abdecken. Berger hat nicht nur den fast völlig erhaltenen Schädel des Teenagers MH-1 gefunden. Ihm fielen auch eine einzigartig gut erhaltene Hand, das intakte Becken und ein prächtiger Hinterfuß von Mama Sediba (MH-2) in die Hände.

Die neu entdeckte Gattung des Australopithecus sediba

Die eingehende Untersuchung der Fossilien in den vergangenen zwölf Monaten führte zu einer Reihe von Überraschungen. So zeigte bereits ein erster Augenschein des Schädels, dass das Gehirnvolumen von MH-1 mit 420 Kubikzentimetern selbst für einen Australopithecus relativ klein und mit dem eines Homo erectus (900 Kubikzentimeter) nicht zu vergleichen war.

Doch ein in der europäischen Synchrotron-Strahlungsanlage in Grenoble angefertigter Scan brachte zum Vorschein, dass das Gehirn des jungen Sediba bereits wie das eines Homo organisiert war. Möglicherweise verfügte es bereits über den Bereich, der später zum Sprachzentrum wurde, und war für den Umgang mit Werkzeugen gerüstet.

Ein Lebenwesen an der Schwelle

Dass Australopithecus sediba Werkzeuge benutzte, legt auch die Hand der Mutter nahe. Sie hatte wie wir heute einen langen Daumen und kurze Finger, die im Zusammenspiel gut kontrollierte Bewegungen ermöglichten: sogenannte Präzisionsgriffe. Diese Hand war allerdings an einem affenartig langen Arm angebracht, an dessen Ende, so Lee Berger, "man niemals eine derart moderne Hand erwartet hätte".

Mama Sediba konnte in den Bäumen schwingen, aber zugleich Werkzeuge benutzen - ein Lebewesen an der Schwelle zwischen Mensch und Affe. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen die Fußspezialisten. Mama Sedibas Sprunggelenk und ihr Unterschenkelknochen ließen keinen Zweifel an ihrem aufrechten Gang, sagt der Kurator der Johannesburger Universität Witwatersrand, Bernhard Zipfel.

Und wenn es doch eher auf das Innere des Schädels ankam?

Gleichzeitig habe die Dame jedoch über ein Fersenbein und starke Fußmuskeln verfügt, wie man sie noch heute von Schimpansen kennt. "Hätten wir ihre Fußknochen nicht noch zusammengefügt gefunden, hätte ich geschworen, dass sie zu verschiedenen Gattungen - Homo und Australopithecus - gehören."

Schließlich wurden die Wissenschaftler auch von Mama Sedibas Becken überrascht. Es weist bereits die von der Homo-Gattung bekannte Form auf, obwohl der Kopf noch klein ist. Bisher war man davon ausgegangen, dass das menschliche Becken seine Form erhielt, um die für die Entwicklung des Homo angeblich so wichtigen großen Köpfe gebären zu können. War die Gehirngröße doch nicht so wichtig? Kam es eher auf die Organisation des Schädelinhalts an?

Ein Grauzonen-Fund

Die Arbeit an MH-1 und -2 werde noch so manche Theorie über den Haufen werfen, ist Lee Berger überzeugt. Schließlich sind die Untersuchungen mit der gestrigen Veröffentlichung längst nicht abgeschlossen, auch werden noch weitere Skelettteile am Ausgrabungsort vermutet.

Schon heute gehören Bergers Funde allerdings zu den am besten erforschten Fossilien der Welt. Selbst ihr Alter konnte wegen der gelegentlich vorkommenden Umpolung des Erdmagnetismus mit 1,977 bis 1,98 Millionen Jahren außergewöhnlich präzise bestimmt werden.

Forsetzung einer Schlacht zwischen Abstellgleis und ankommendem Zug der Evolution

Damit sind sie exakt in der Grauzone zwischen den letzten Australopithecinen und den ersten Homines angesiedelt. Sämtliche bisher gefundenen Australopithecinen sind älter als zwei und bis zu vier Millionen Jahre alt, Exemplare der Gattung Homo sind weniger als 1,9 Millionen Jahre alt.

Selbstverständlich erheben Berger & Co. den Anspruch, dass ihre Funde auf der Hauptverbindung vom Uraffen zum Homo sapiens anzusiedeln sind - womit die in Ostafrika gefundenen Überreste des Homo habilis aufs Abstellgleis der Evolution geschoben würden. Deren Entdecker werden damit nicht einverstanden sein. Die unter Paläoanthropologen mit Verve geführte Schlacht geht weiter.