Der Festo-Vorstandschef Claus Jessen glaubt, dass die deutsche Produktionskompetenz trotz Digitalisierung ein Trumpf ist.

Hannover - Anfang des Jahres hat Claus Jessen den Vorstandsvorsitz bei dem Automatisierungsspezialisten Festo übernommen. Er kennt das Unternehmer; schließlich war er im Vorstand sechs Jahre lang für die Produktion zuständig. Dennoch plant er Änderungen.

 
Herr Jessen, Festo hat die Messebesucher in Hannover in den vergangenen Jahren gerne mit elektronischen Tieren wie Schmetterlingen, Kängurus oder Ameisen überrascht. Welcher Tier wird es diesmal sein?
Ein neues Tier zeigen wir nicht. Unser Fokus in Hannover liegt eindeutig auf Industrie 4.0. Wir werden neue Produkte und Anwendungen mit einer starken Branchenorientierung zeigen. Wir wollen Möglichkeiten der Flexibilisierung veranschaulichen. Das ist der Kern der digital vernetzten Produktion der Zukunft.
Ihr beruflicher Schwerpunkt liegt in der Produktion. Wie sieht die Zukunft in diesem Bereich aus?
Produktion besteht seit Jahrzehnten aus den drei Dimensionen Qualität, Termin und Kosten. Es geht dabei um Eigenschaften eines Produktes, die Zuverlässigkeit und die globale Wettbewerbsfähigkeit unter Kostengesichtspunkten. Industrie 4.0 bringt nun als vierte Dimension die Individualisierung in die Massenfertigung ein. Ich mache es am Beispiel Turnschuhe deutlich: Da bisher die Turnschuhe alle gleich aussahen, war es gleichgültig, wie sie verteilt wurden. Doch wenn künftig mein Name darauf steht, ist es wichtig, dass exakt diese Schuhe zu mir kommen – und das zu Kosten einer Massenfertigung.
Also planen Sie keine weiteren Ausflüge in die elektronische Tierwelt, um Phänomene der Natur in die Technik zu übertragen.
Die Inspiration aus der Natur spielt für uns nach wie vor eine große Rolle. Das sieht man am schönsten an den Ameisen, die Festo entwickelt hat.
Was lernen Sie von den emsigen Sammlern?
Das wird deutlich, wenn wir den aktuellen Stand der Industrieautomation mit dem künftigen vergleichen. Heute ist Industrieautomation streng hierarchisch wie eine Pyramide aufgebaut - oben ist die Fabriksteuerung, darunter die Anlagensteuerung, ganz unten sind die Komponenten, die angesteuert werden. Künftig wird es ein Netzwerk von kommunizierenden Komponenten geben, die selbst Aufgaben übernehmen. Genauso wie bei den Ameisen, die autonom entscheiden und handeln können und miteinander kommunizieren, bevor sie gemeinsam ein Teil transportieren.
Klingt einfach.
Das ist aber alles andere als trivial. Heute überlegen sich Ingenieure und andere Fachkräfte an welcher Stellschraube sie drehen müssen, um den Ausstoß einer Anlage zu erhöhen. In der neuen Welt der Automatisierung fragen die Komponenten einer Anlage ihre noch freien Kapazitäten untereinander ab - und da werden schnell mal 1000 Komponenten angesteuert. Dies setzt aber voraus, dass jede Komponente weiß, wie stark belastet sie ist und ob sie noch Reserven hat.
In Scharnhausen haben Sie vor einem halben Jahr eine Schaufabrik nach neuester Technik eröffnet. Ist dies dort verwirklicht?
Heute gibt es noch keine serienreifen Komponenten, die so wie die Ameisen autonom kollaborieren und kommunizieren können. Aber wir betreiben in Scharnhausen bereits eine modular aufgebaute Fertigungsanlage, die hochflexibel auf unterschiedliche Produktvarianten reagieren kann. Also erste Ansätze befinden sich in der Erprobung . Bisher hatten wir nicht mal die Sprache definiert, in der die Komponenten – herstellerunabhängig wohlgemerkt – künftig miteinander kommunizieren werden. Derzeit sind viele Komponenten rein mechanisch, sie haben weder eine Identität noch können sie kommunizieren. Aber wir arbeiten aktiv in den Standardisierungsgremien für einheitliche Kommunikationsschnittstellen wie z. B. den OPC UA Standard mit. Ziel sind weltweit einheitliche Standards. Einige unserer Komponenten verfügen schon heute über diese Schnittstellen.
Welche Erfahrungen sammeln Sie dann in Scharnhausen?
Uns geht es dort neben der Steigerung der Produktivität verstärkt um mehr Flexibilität. Schon heute fertigen wir in unserem Werk in Rohrbach beispielsweise Zylinder, exakt nach den Vorgaben eines Kunden – und liefern wenn es sein muss innerhalb von 24 Stunden aus. Kundenspezifisch können wir. Neuland für uns ist die Digitalisierung auf der Komponente und die massiv zunehmende Bedeutung der Software. Und Digitalisierung findet nicht nur auf Produktebene statt, sondern auch im Zusammenspiel mit Kunden und Lieferanten. Technisch möglich ist, dass der Kunde mit seinem Auftrag direkt unsere Maschinen ansteuert. Doch so weit sind wir noch nicht.
Wie lange dauert es denn noch bis zur industriellen Revolution?
In der Musik war die Transformation von der CD hin zu den Streaming-Diensten nach fünf bis zehn Jahren abgeschlossen. Doch die Welt der Industrieautomatisierung tickt bei weitem nicht so schnell wie die Welt von Konsumgütern. Keiner wird seine Anlage verschrotten, nur weil Komponenten plötzlich miteinander kommunizieren können. Wir müssen also schon bis zu 20 Jahre vorausdenken. Das heißt aber nicht, dass wir so lange warten dürfen. Wir müssen jetzt mit Hochdruck die neue Welt gestalten.
Für ein großes Unternehmen wie Festo dürfte das weniger ein Problem sein. Doch wie steht es mit den Kleinen?
Was sind denn Innovationen? Wir dürfen hier nicht nur an neue Produkte denken. Es geht auch um neue Geschäftsmodelle - und dies könnte eine große Herausforderung für Kleine sein. Die Googles der Welt sind da im Vorteil - ihre Aktivitäten haben eine Vielzahl von Start-ups in den USA hervor gebracht. Aber unterschätzen Sie auch die Herausforderung für die etablierten Hersteller nicht. Festo kommt von der Mechanik. Später kam die Elektronik. Die nächste Stufe ist die Digitalisierung; hier wird Software die dominante Rolle spielen. Das wird die Welt stärker verändern als wir dies in der Vergangenheit je erlebt haben.
Und was passiert, wenn die Kleinen an der Revolution gar nicht teilnehmen wollen?
Die Revolution geht nicht von den Unternehmen aus, sondern von den Kunden. Die Kunden wollen individualisierte Produkte, sie haben immer weniger Interesse an einem Allerweltprodukt. Große Firmen treiben die Entwicklung voran. Aber es wird auch ganz neue Firmen mit neuen Ideen geben.
Wer hat die bessere Ausgangsposition – Unternehmen wie Festo oder wie Google?
Die Industrie, die die realen Dinge macht, ist meiner Ansicht nach im Vorteil. Wir kennen die Kunden und wir kennen deren Prozesse – egal ob die Automobil-, die Nahrungsmittels- oder die Verpackungsindustrie. Die Frage ist: Lernen Internet-Unternehmen eher, wie reale Produkte entstehen, oder lernen produzierende Unternehmen eher, wie das Internet funktioniert. Ich bin da guter Dinge.
Aber Google ist auch kein reiner Internetkonzern mehr.
Unternehmen wie Google wissen, dass sie nicht die Zeit haben, selbst industrielles Know how aufzubauen. Also kaufen sie klassische Hersteller zu. Ob sie Erfolg damit haben, ist nicht ausgemacht. Denn da prallen ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander.
Das Problem haben auch klassische Hersteller, die in Software investieren müssen.
Ja, das ist ein Prozess, der seine Zeit braucht. Wir bei Festo haben deshalb Innovationsinseln gegründet – so sollen die Welt der Dinge und die digitale Welt langsam zusammen wachsen.
Nutzt Festo das Innovationspotenzial von Start-ups?
Mein Ziel ist, mit Start ups zu kooperieren. Damit will ich über die reine Produktentwicklung hinaus mehr Innovationen ins Unternehmen bekommen. Das ist eine Voraussetzung, um in der digitalisierten Industrieautomatisierung wirklich erfolgreich zu sein.
Nicht nur die Amerikaner, auch die Chinesen wollen bei der Digitalisierung mitmischen. Sind die Chinesen schneller?
Die Chinesen haben erst vor fünf oder zehn Jahren mit der Automatisierung begonnen. Sie sind flächendeckend noch nicht weit fortgeschritten, aber was sie haben, ist auf einem sehr modernen Stand. Das müssen wir ernst nehmen. Ob sie am Schluss schneller sind als wir, wird sich zeigen. Aber darüber entscheidet nicht nur das Geld, sondern auch die Ingenieurleistung. Die Anlagen wollen konstruiert werden, das braucht richtig gute Automatisierungstechniker.
Innovationen muss man sich leisten können. Wie laufen die Geschäfte von Festo?
Die Geschäfte laufen gut. Das Wachstum lag im vergangenen Jahr bei acht Prozent. Und acht Prozent des Umsatzes geben wir für Innovationen aus.
Sie haben zuletzt massiv investiert. Bauen Sie weiter?
Da wir weiter wachsen wollen, haben wir in den vergangenen drei Jahren massiv in Kapazitäten investiert – in Scharnhausen haben wir die Technologiefabrik, im Saarland eine Gummi-Kunststoff-Fabrik errichtet. Auch in den USA , in China, Indien und in Osteuropa haben wir investiert. Unsere Freiflächen müssen nun erst mal ausgelastet werden.
Reichen die Freiflächen für einen Umsatz von drei Milliarden?
Ja, dafür reichen sie.
Festo hat zuletzt negative Schlagzeilen geschrieben, weil der Vertrag mit der Stadt Esslingen über den Finanzierungsanteil am Ausbau des Straßenknotens Nellinger Linde gelöst wurde. Was ist der Hintergrund?
Diese Verträge wurden vor meiner Zeit als Vorstandsvorsitzender geschlossen. Ich bitte um Verständnis, wenn ich mich dazu nicht äußere.