„Barbara“ von Regisseur Christian Petzold erzählt eine DDR-Geschichte – und zeigt den deutschen Film in bester Verfassung.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Zu berichten ist heute von einem neuen, sehr gelungenen deutschen Film und dem Kampf einer jungen Frau. Kommen wir aber zuvor kurz auf die ewigen Kämpfe alter Männer zu sprechen. Es dauert nicht lang, versprochen. Aber vergangenen Sonntag befragte der Deutschlandfunk in seinem Kulturmagazin den Regisseur Edgar Reitz (79) zum „Oberhausener Manifest“, jenem Papier von 1962, in dem eine Reihe junger Filmleute, darunter Reitz, nicht nur den schönen Satz „Opas Kino ist tot“ verlautbarten, sondern auch die volle künstlerische Verantwortung und Autonomie des Filmregisseurs forderten. So weit, so verdienstvoll.

 

Auf die Frage aber, wie aktuell das fünfzigjährige Manifest denn heute noch sei, meinte Reitz, all das sei angesichts „der Konventionen, der Zwänge“, in denen Autoren und Regisseure gerade steckten, der Konventionen und Bevormundungen, die sie behinderten, so frisch wie am ersten Tag: „Und das Ergebnis, was wir in den Kinos sehen, spricht ja unglaubliche Bände darüber, über die Produktionsbedingungen in Deutschland“, O-Ton Reitz, Ende.

Hornhaut in zigfacher Schichtung

Offen gestanden fragt man sich da doch, wann Edgar Reitz eigentlich das letzte Mal im Kino war, um einen aktuellen deutschen Film zu sehen. Um mal nur ein paar Namen zu nennen, die uns gerade auf die Schnelle so einfallen: Tom Tykwer, Christian Petzold, Ulrich Köhler, Andreas Dresen, Yasemin Samdereli, Oskar Roehler, Andres Veiel, Fatih Akin, Hans-Christian Schmid – zugegeben, allesamt entschieden zu jung, um schon damals in Oberhausen dabei gewesen zu sein, und allesamt infolge permanenten Kampfes mit diversen Produktionsgelder-Vergabestellen längst mit Hornhaut in zigfacher Schichtung ausgestattet, das glauben wir gern und sofort.

Und trotzdem: wer kann eigentlich guten Gewissens bestreiten, dass wir inzwischen nicht nur zwei oder drei, sondern eben eine ganz stattliche Reihe deutscher Regisseure haben, die jedes Jahr interessante, spannende, anregende, in jedem Fall diskussionswerte Filme in unsere Kinos bringen, auf den internationalen Festivals in aller Welt gern gesehen sind, also summa summarum allen Konventionen und Bevormundungen zum Trotz das deutsche Kino offenbar lebendig und produktiv ist? Während Edgar Reitz gerade an seiner vierten „Heimat“-Staffel dreht, obwohl schon der sogenannte Epilog von 2006 kaum noch zum Hinsehen war?

„Barbara“ von Christian Petzold

Kommen wir damit zum schönen Teil dieses Beitrags, eben zu dem neuen, sehr gelungenen deutschen Film um den Kampf einer jungen Frau: „Barbara“ von Christian Petzold. Der Berlinale-Jury war dieses Werk jüngst einen Silbernen Bären für die beste Regie wert, für die große Mehrheit der Kritiker aus aller Welt war es der beste Film des Festival-Wettbewerbs überhaupt. Ruhig, sanft, behutsam, doch zugleich dynamisch, bezwingend, hochgradig schlau erzählt Petzold hier eine private, dramatische, hochpolitische, anrührende Geschichte – und entwickelt dabei auch noch, wie es der „Spiegel“ am Montag so schön schrieb, „ganz außerordentlichen Thrill“.

Damals in der DDR

Stellen wir uns vor, es ist DDR. Zu einer Zeit, da diese noch ewig schien, Anfang der achtziger Jahre. Stellen wir uns eine kluge, engagierte Ärztin an der Charité vor, die es mit den Verhältnissen nicht mehr aushält. Stellen wir uns vor, sie reicht deshalb einen Antrag auf Ausreise in die BRD ein, der natürlich abgelehnt wird. Was passiert wohl mit einer solchen Frau? Sie wird zwangsversetzt an ein Krankenhaus in der Provinz. Sie wird dort unter die Aufsicht der lokalen Stasi gestellt. Ihr wird eine schäbige Wohnung zugewiesen, die regelmäßig von Ordnungskräften durchwühlt wird. Sie selbst hat aber innerlich mit all diesem muffig-kleinbürgerlichen Alltagsterror längst abgeschlossen und sinnt nur noch auf eines: herauszukommen. So schnell wie möglich. Das ist Barbara.

Dabei hat Barbara noch Glück, nämlich einen Geliebten im Westen, einen Manager mit Geschäftsverbindungen zum Sozialismus, der längst alles für die Flucht vorbereitet hat. Die Helfer sind schon bezahlt, der Fluchttag steht schon fest. Diese Geschichte könnte eigentlich schnell zu Ende sein, die Lösung liegt ja zum Greifen nah. Aber dann kommt Barbara die unberechenbare Wirklichkeit dazwischen, genau so, wie es den Filmregisseur Christian Petzold schon immer interessiert hat: die Wirklichkeit in Gestalt realer Menschen.

Sensoren auf Abwehr

Der Chef der Kinderchirurgie heißt André. Und obwohl alle Sensoren in Barbara auf Abwehr geschaltet sind, muss sie doch anerkennen, dass dieser Arzt, der sie vermutlich den ganzen Tag zu kontrollieren hat, höchst schätzenswerte Arbeit leistet. Schätzenswert deswegen, weil er mit den geringen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, Partei ergreift – für die Angeschlagenen in ihren dürftigen Krankenhausbetten, gegen die normierte Kälte des Systems. Barbara wird sich immer stärker fragen, wo genau im Machtkampf der Apparate eigentlich ihr Platz ist. Und wie sich just diese Selbstbefragung entwickelt, mit welchen Zuspitzungen, Zufällen und Pointen, darüber möchte man als Kritiker kein weiteres Wort verlieren, um nur ja nichts zu nehmen von eben jenem „Thrill“, von dem zuvor schon die Rede war.

Wir wollen ebenso nicht viele Worte machen über die Hauptdarstellerin Nina Hoss, deren Klugheit und Präsenz Petzold schon so oft einzusetzen wusste, aber wohl noch nie so auf den Punkt genau wie hier. Rühmen möchten wir vor allem die zweite Hauptrolle: Ronald Zehrfeld als André, ein Bär von einem Mann (der Kritiker des US-Fachmagazins „Variety“ schrieb von ihm in der Berlinale-Kritik anerkennend als „Russell Crowe des deutschen Films“), der ganz den introvertierten, verletzbaren, in der entscheidenden Minute aber entschiedenen Kämpfer trifft.

Kraftvoll und aktuell

Ist das nun eine DDR-Geschichte, die Petzold hier erzählt? Einerseits ja – und andererseits doch nicht, denn weder Kostüme noch Requisiten drängen sich in den Vordergrund, Zeit und Ort der Filmhandlung werden nach kurzer Zeit beinahe nebensächlich. Die Geschichte, die der Regisseur mit seinen wunderbaren Darstellern erzählt, trifft den Zuschauer im Hier und Jetzt. Deswegen interessiert sie ihn. Diese DDR-Geschichte ist ein deutscher Film, so kraftvoll und aktuell, wie man ihn sich nur wünschen kann. Noch dazu mit dem wunderbarsten Schlussbild und der coolsten Abspannmusik seit langer Zeit. Merkt man was? Der Kritiker ist begeistert – und darum ist ihm weder um „Heimat“ noch um die Zukunft des deutschen Kinos bang.

Barbara. Deutschland. Regie: Christian Petzold. Mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Rainer Bock. 105 Minuten. Ab 6 Jahren. Von Donnerstag an im Bollwerk.