Das 1. Stuttgarter Literaturfestival – kuratiert von Lena Gorelik – ist am Sonntag mit zwei spannenden Lesungen zu Ende gegangen. Ob es eine zweite Auflage geben wird, muss nun die Stadt entscheiden.

Luise ist noch ein Kind, als sie zuhause am Badesteg eine angeschwemmte Tote entdeckt. Während das Mädchen einen Schock erleidet, benehmen sich die Erwachsenen seltsam abgeklärt. Die Erwachsenen; das sind die Mutter und Großmutter Vera, die mit Luise auf einem riesigen, aus fünf Häusern bestehenden Anwesen leben. Luises aufmüpfige Schwester Leni wurde ins Internat verbannt, Männer sind keine mehr da.

 

„Männer sterben bei uns nicht“, lautet der Titel dieses Romans, aus dem die Autorin Annika Reich am Sonntag im Literaturhaus gelesen hat, die Männer „kamen und gingen“. Jan Snela, Moderator der Lesung am letzten Tag des ersten Stuttgarter Literaturfestivals, spricht mit Annika Reich über die patriarchalen Strukturen innerhalb der im Roman vorgestellten Familie. Prägnant findet er, dass Reich die Frauen anhand ihrer Kleider beschreibe, nie anhand ihrer Gesichter. „Die Frauen leben in den Hüllen des Patriarchats“, erklärt Reich, und spricht über weibliche Gewalterfahrungen, die sich Frauen oft selbst und gegenseitig nicht glaubten. Sie beschreibt auch die unterschiedlichen Strategien, die Luise und ihre Mutter entwickeln, um den Tod der Patriarchin Vera zu verarbeiten. Während die Tochter trauert, distanziert sich die Mutter: „Ich lebe noch, weil ich an nichts hänge.“ Diese Kühle kann man befremdlich nennen, unterm Motto „Schreiben, während die Welt geschieht“ geht es beim Festival aber immer wieder um literarische Überlebensmodelle in einer von Katastrophen und Krisen erschütterten Zeit. Wie bei der zweiten Lesung am Sonntag, „anders bleiben. Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten“ mit Selma Wels, Maryam Aras und Shida Baydar, eingeladen von der Kuratorin Lena Gorelik. Eine Gebärdendolmetscherin soll für Barrierearmut sorgen, eine schöne Geste. Nach der Einführung durch Gorelik und Stefanie Stegmann, der Leiterin des Literaturhauses, ist sie aber verschwunden.

Selma Wels berichtet, wie sie als Herausgeberin verschiedene Autoren und Schriftstellerinnen einlud, Briefe an tote oder lebendige Personen zu schreiben. Wels und Baydar etwa erzählen von frühen Kontakten mit Literatur und der Bedeutung von Chancengerechtigkeit in der Schule. Maryam Aras kritisiert in ihrem Brief an den 2021 verstorbenen Lyriker Said die Exotisierung von im deutschen Exil lebenden Iranern und Iranerinnen, aber auch, dass diese sich selbst als Fremde der „weißen Dominanzgesellschaft“ näher fühlten, als etwa arabischen Intellektuellen wie dem Ägypter Nagib Mahfuz. Natürlich gebe es Grund zur Hoffnung, sagt Baydar im anschließenden Gespräch mit Lena Gorelik, sonst würde man nie schreiben oder lesen. Auch Stefanie Stegmann ist nach dieser ersten Ausgabe des Festivals hoffnungsvoll: 3500 Besuche kann das Veranstaltungsteam verzeichnen. Ob es weiter geht, liegt nun in der Entscheidung der Stadt.