Am Olgahospital startet ein Forschungsprojekt, das den quälenden Schmerzen auf den Grund geht, unter denen Kinder und Jugendliche mit frühkindlicher Hirnschädigung leiden.

Stuttgart - Die Nächte sind am schlimmsten. Wenn er nicht schläft, schreit Jannis. Und er schläft kaum. Nanna Kunz, seine Mutter, hat schon sehr viele Jahre mit schlechten Nächten und anstrengenden Tagen hinter sich. „Man ist nur noch kaputt“, sagt die Stuttgarterin. Vor knapp 17 Jahren ist ihr dritter Sohn mit Zerebralparese auf die Welt gekommen. Das ist eine Störung der Beweglichkeit des Körpers, verursacht durch eine frühkindliche Hirnschädigung. Sie geht meist mit einer Spastik einher, so auch bei Jannis. „Er kann nicht laufen, nicht sitzen, er kann eigentlich gar nichts“, sagt sie. Ganz selten lächelt er. Inzwischen weiß Nanna Kunz, warum ihr Sohn so viel schreit: weil er dauerhaft starke Schmerzen hat. Nur woher diese quälenden Schmerzen kommen, das weiß man nicht.

 

Der Großteil der Kinder mit dieser Behinderung entwickle Schmerzen, berichtet Markus Blankenburg, der Ärztliche Direktor der Pädiatrischen Neurologie, Psychosomatik und Schmerztherapie im Olgahospital. Meist sei das nach dem fünften Lebensjahr der Fall. Das Problem: die Schmerzen würden oft nicht als solche identifiziert. Denn gängige Schmerzmittel, wie Iboprofen und Paracetamol, die auf die Schmerzrezeptoren wirken, bringen keinerlei Linderung. Dadurch liegt für die behandelnden Ärzte der Schluss nahe, dass es sich eben doch nicht um Schmerzen handelt. Haben die Jungen und Mädchen eine Sprachstörung oder können wie Jannis gar nicht sprechen, sind sie zudem nicht in der Lage zu sagen, dass ihnen doch etwas weh tut. Für die Familien sei die Situation äußerst belastend, weil ihre Kinder immer unruhig sind, sagt Blankenburg.

Medikamente sind für die Therapie nicht zugelassen

„Wir Ärzte wissen bisher nicht, woher die Schmerzen kommen, das macht sie extrem schwer behandelbar“, berichtet er. Der Chefarzt meint allerdings die Antwort zu kennen: Es müssten neuropathologische Schmerzen sein, die im Nervensystem entstehen. Er geht von einer Funktionsstörung der Schmerzfasern im Gehirn aus. In einer ersten Untersuchung mit 30 Kindern an seiner alten Wirkungsstätte am Deutschen Kinderschmerzzentrum der Universität Witten/Herdecke habe er „deutliche Hinweise“ erhalten, dass es sich um Nervenschmerzen handelt. Was fehlt, ist der Nachweis mittels Bildern eines speziellen Magnetresonanztomographen (MRT).

Nun will Blankenburg diesen Nachweis erbringen, um die Kinder richtig behandeln zu können. Es gebe Mittel, die bei Nervenschmerzen wirken. Nur sind diese bisher nicht zugelassen für die Schmerztherapie bei Kindern mit einer Zerebralparese. Die Mittel wirkten erst nach vier bis sechs Wochen – und seien deutlich stärker als andere. Dazu zählen Morphine, die man nur auf speziellen Rezepten verschreiben kann.

Auch die Geschwisterkinder leiden

Für das Forschungsprojekt in Kooperation mit der Radiologie und Orthopädie im Olgäle hat der Schmerzexperte einen wichtigen Mitstreiter gefunden: den Förderverein Funk e.V., der an diesem Samstag sein 20-Jahr-Jubiläum feiert. Funk finanziert das Projekt für drei Jahre, pro Jahr wird mit 30 000 Euro kalkuliert. Mit dem Geld werden vorwiegend die MRT-Aufnahmen bezahlt. Das erste Jahr sei über Spenden finanziert, berichtet die Vorsitzende des Vereins, Margot Kuon, die große Hoffnungen auf die Ergebnisse setzt. „Das ist etwas ganz Wichtiges, es gibt nichts Schlimmeres für Eltern, als wenn ihre Kindern Schmerzen haben und sie nichts tun können, um ihnen zu helfen“, sagt Margot Kuon.

Das berichtet auch Nanna Kunz. Als Jannis kleiner war, konnte sie ihn nachts noch damit beruhigen, ihn umzulegen. Doch irgendwann ging das nicht mehr. Auch die älteren Söhne haben darunter gelitten. Tagsüber sei es wegen der größeren Ablenkung etwas besser beziehungsweise Jannis sei dann auch in der Schule – und sie selbst ist bei der Arbeit. Seit einer Operation am Becken vor zwei Jahren ist es etwas besser geworden. Diese Schmerzquelle konnte eliminiert werden. „Er lag hier in der Klinik und hat Tage und Nächte durchgeschrien“, erinnert sich auch Markus Blankenburg. Außerdem kann Nanna Kurz gewisse Zeichen nun deuten. Wenn ihr Sohn Schmerzen hat, bekomme er Schweißperlen auf der Stirn, dann auf der Nase – erst dann beginne die Schreiattacke . Bei Bedarf kann sie ihm Morphin geben, sie hat einen Arzt, der das Mittel ihrem Sohn verschreibt. Dauerhaft bekommt er zudem das Schmerzmittel Novalgin.

Auch Nanna Kunz ist die Forschung wichtig. Ihr Sohn wird aber nicht an der Studie teilnehmen. Nur Kinder, die mitarbeiten können, werden ausgewählt. Das sei bei etwa einem Viertel der Betroffenen der Fall, sagt Blankenburg, der hofft, dass 60 Kinder und Jugendliche mitmachen. Von den Ergebnissen würden dann alle profitieren – geistig behindert oder nicht.

Der Förderverein:

Jubiläum
: Der Förderverein Funk wurde 1996 von 42 Personen gegründet, um neurologisch erkrankte Kinder und deren Familien in Stuttgart zu unterstützen. Es gibt einen Elternstammtisch, Vortragsreihen und Workshops, aber auch Förderprojekte. Heute zählt der Verein 430 Mitglieder. Gefeiert wird das Jubiläum an diesem Samstag: Veranstaltet werden im Olgahospital ein Familienfest und ein Neuropädiatrisches Symposium. Die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Maunz (CDU) ist Schirmherrin der Tagung, am Abend wird in der SpardaWelt am Hauptbahnhof zudem „Die Schwäbische Schöpfung – Komische Oper in Drei Aufzügen“ gezeigt (ab 20 Uhr).

Krankheiten:
Zu neurologischen Erkrankungen zählen zum Beispiel Epilepsien, Multiple Sklerose und Spina bifida (offener Rücken).

Mehr Informationen über den Förderverein finden Sie hier.