Frankreich driftet auseinander. Bei der Stichwahl braucht es einen Schulterschluss der Moderaten. Das wird aber auf Dauer nicht funktionieren, analysiert Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Ein Gedankenexperiment: Wie würde in Deutschland das Ergebnis einer Wahl diskutiert, bei der SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne zusammen weniger als 40 Prozent der Stimmen erhalten hätten, dagegen Linke, AfD und Gruppierungen, die noch weiter links und weiter rechts stehen, über 60 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen würden? Bei allen Problemen der Vergleichbarkeit: Genau das war das Ergebnis des ersten Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahl. Mehr als 60 Prozent der Stimmen gingen an Kandidatinnen und Kandidaten, die explizit auf der einen Seite antikapitalistisch, kommunistisch oder trotzkistisch sind oder andererseits nationalistisch, rassistisch und ausländerfeindlich. Einig sind sich diese populistischen Gruppierungen in ihrer Ablehnung der herrschenden Gesellschaftsform, der europäischen Integration und in Teilen auch der demokratischen Institutionen. Selbst die Moskau-Nähe etwa der rechtsextremen Marine Le Pen hat die Wählerinnen und Wähler nicht abgeschreckt.

 

Die Spaltung ist Frankreichs Dauerzustand

Frankreichs aktueller Staatspräsident Emmanuel Macron hat bei seiner ersten Kampagne vor fünf Jahren die bisherigen Volksparteien zerlegt. Dass eine Valérie Pécresse aus der konservativen Parteienfamilie unter fünf Prozent blieb, war noch vor nicht allzu langer Zeit undenkbar. Noch schlimmer hat es die Pariser Bürgermeisterin und Sozialistin Anne Hidalgo mit weniger als zwei Prozent erwischt – aus dieser Position heraus ist früher einmal der Gaullist Jacques Chirac Staatspräsident geworden.

Wer also nach dem ersten Wahlgang angesichts des schein-komfortablen Vorsprungs von Emmanuel Macron von vier Prozentpunkten vor der Rechtsextremen Marine Le Pen aufatmet, der könnte in zwei Wochen erschrocken auf dem Boden der Tatsachen landen. Denn was man westlich des Rheins beobachten kann, ist nicht die Momentaufnahme einer gespaltenen Gesellschaft, sondern offenbar ihr Dauerzustand.

Die Mitte Frankreichs dörrt aus

Seit 2002 haben es Marine Le Pen und ihr Vater Jean-Marie insgesamt dreimal in die Stichwahl geschafft. Bis jetzt gelang es noch jedes Mal, Vater oder Tochter Le Pen in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Demokraten abzuwehren. Doch die Gefahr besteht, dass dieses Geschäftsmodell an seine Grenzen stößt. Die „rupture sociale“, den sozialen Bruch, hat seinerzeit schon der bereits beschriebene Jacques Chirac ausgemacht – das war 1995. Seitdem haben sich in Frankreich eher die Extremisten weiterentwickelt, während die Mitte ausdörrte.

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Womöglich gelingt es Macron in der Stichwahl in knapp zwei Wochen noch einmal, die demokratischen, pro-europäischen Kräfte hinter sich zu sammeln. Aber es besteht die Gefahr, dass dies nicht mehr ausreicht – eines fernen Tages oder schon bald.