Kirchen, Burgen, Schlösser und Ruinen. Die Frauenkirche in Esslingen ist nicht nur baulich besonders, auch ihre Geschichte ist erstaunlich. Denn sie wurde in Opposition zu einer anderen Kirche gebaut.

Es ist schwer, einen Anfang zu finden, um die Geschichte der Frauenkirche in Esslingen zu erzählen. Es gäbe so viele. Das Gebäude und seine Historie sind dermaßen facettenreich, dass es fast schon egal ist, ob man beim Teufel anfängt, der hoch oben auf einem Giebel sitzt, bewaffnet mit einer Zwiebel, oder beim Haupteingang, der in der falschen Himmelsrichtung steht, oder bei den Taubeneiern, die der Autor trotz Höhenschwindel hoch oben auf dem Turm der Kirche fand. Aber beginnen wir doch bei dem alten Mann, der die Frauenkirche „seine“ Kirche nennt. Hier wurde er getauft, hier hat er geheiratet, und „vielleicht bekomme ich hier ja auch das letzte Geleit“.

 

Wer ist der Kirchenführer?

Arno Ulrich hat Scharen von Menschen die Frauenkirche nahegebracht. Er lebt diese Kirche, denn es ist „seine“ Kirche, so wie manche Menschen davon sprechen, es sei ihre Stadt, in der sie leben. „Hier bin ich getauft, konfirmiert, verheiratet, und vielleicht verabschieden sie mich hier auch.“ Ulrich hat den Charme eines Menschen, der sich traut, auch mal einen verhaltenen Witz zwischen die vielen theologischen, moralischen und bauhistorischen Themen zu schieben, die der Kirche in der Regel ihre überbordende Ernsthaftigkeit verleihen. Aber offiziell macht der alte Mann keine Führungen mehr. Es war eine Exklusivführung, in deren Genuss Autor und Fotografin kamen.

Was macht die Kirche von außen aus?

Bevor Arno Ulrich ins Innere des Gebäudes führt, macht er es von außen schmackhaft. Aufmerksame Beobachter erkennen, dass das Hauptportal nicht exakt im Westen steht, wie es bei vielen Kirchen üblich ist. Das hat seinen Grund: Schon damals war der Bauplatz knapp in Esslingen. Die Kirche wurde dicht an die Stadtmauer gebaut – für einen Eingang wäre kein Platz mehr gewesen.

Die Figuren, die man später oben von Angesicht zu Angesicht sieht, sind schon von weit unten erkennbar. Zum Beispiel der Teufel, der mit einer Zwiebel droht. Eine wahrlich witzige Figur in Esslingen, denn Esslinger bezeichnen sich selbst als Zwieblinger. Aber nicht etwa, weil es auf der Esslinger Gemarkung einen reichhaltigen Zwiebelanbau gäbe, sondern aufgrund einer skurrilen Erzählung: Eines Tages besuchte der Teufel den Esslinger Wochenmarkt. Dort stieß ihm ein roter Apfel in die Augen, den er probieren wollte. Die Marktfrau erkannte den Teufel am Pferdefuß und gab ihm keinen Apfel, sondern eine Zwiebel. Der gierige Teufel biss gierig in die Zwiebel. Die Reaktion ließ nicht lange warten, und er verfluchte die Esslinger: Sie sollten nicht länger Esslinger heißen, sondern Zwieblinger. Die Esslinger nahmen es gelassen, denn der Teufel machte sich davon. Was blieb, war der Name. Und die Figur hoch oben auf dem Dach. Die allerdings erst spät im 19. Jahrhundert zur Kirche kam, die zu diesem Zeitpunkt schon rund 300 Jahre lang ihre Dienste getan hatte.

Was ist die Geschichte der Kirche?

Insgesamt ist die Kirche von außen stark verschnörkelt und voller Figuren. Das macht sie filigran, zumal sie die schmale und hochgewachsene Gotik in sich trägt. Die höchste Stelle der Kirche ist ebenso hoch wie die höchste Stelle der Stadtkirche. Nicht zufällig. Beide Kirchen standen in Konkurrenz. Die Frauenkirche ist gewissermaßen die Opposition zur Stadtkirche St. Dionys auf dem Esslinger Marktplatz. Letztere ist viel älter, die ersten Steine wurden um 700 verlegt. Bei der Frauenkirche legten die Kirchenbaumeister erst 1325 los und wurden etwa 200 Jahre später fertig. Quellen nennen verschiedene Daten, wann die Kirche wirklich zu Ende gebaut wurde. Aber irgendwie ist sie nie zu Ende, denn gewerkelt – insbesondere ausgebessert – wird heute noch.

Was ist der soziale Hintergrund?

Zur Zeit des Kirchenbaus war der Esslinger Bürgerschaft eines wichtig: Sie wollten ihre eigene Kirche. Denn die Stadtkirche lieferte ihre Einnahmen nach Speyer, weil das dortige Domkapitel im Besitz der Kirche war. Also plante und finanzierte das Esslinger Bürgertum die Frauenkirche, die im Gegensatz zur Stadtkirche Bürgerkirche genannt wird. Nach wie vor ist sie ein Symbol des bürgerlichen Engagements. Heute noch nimmt sie hohe Spenden von Bürgern und Unternehmern entgegen, die den Mythos am Leben erhalten. Dazu passt auch, dass hier im Winter die Esslinger Vesperkirche stattfindet. Und wenn im Sommer um den Segen Gottes zum Bürgerfest gebetet wird, dann findet das ebenfalls in der Bürgerkirche statt. Sie steht wie kaum ein anderes Gebäude in Esslingen für den Bürgerstolz, der tatsächlich immer noch in dieser großen Kleinstadt durch die Gassen weht.

Woher kommen die Steine?

Kirchen dieser Größe sind immer aus Stein. Lastwagen, Bagger – hat es alles nicht gegeben in der mehr als 200 Jahre währenden Bauzeit. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, was die Mülldeponie Katzenbühl mit der Frauenkirche zu tun hat. Dort lag ein großer Steinbruch, und ein Teil der Steine kam von dort. Insgesamt war der Norden ergiebig: Auch ein Teil von Wäldenbronn und Rüdern ist in der Frauenkirche verbaut.

Gibt es weitere Besonderheiten?

Das wichtigste Portal ist, kein Wunder, das Marienportal. Aber von der Bedeutung her ist das Weltgerichtsportal eigentlich noch eine Nummer größer, denn hier geht es ums Ganze. Was dort auch eindrücklich dargestellt wird: Auf der einen Seite treten Figuren staunend ins Himmelreich ein, auf der anderen geht es mit gesenktem Blick in die Hölle. An den Kopfbedeckungen ist zu erkennen, dass es nicht am Rang liegt, wer wo landet, denn selbst ein Bischof ist unter den Verdammten. Die großen Fenster der Kirche sind natürlich aus Glas, teilweise unterteilt in unzählige Bilder, die Geschichten der Bibel wiedergeben. Kaum verwunderlich, dass es auch ein Marienfenster gibt. Hier lohnt es sich, ein Fernglas dabeizuhaben, denn auch im obersten Raum werden noch spannende Bildergeschichten erzählt, die mit bloßem Auge schwer zu erkennen sind.

Birgt die Kirche ein Geheimnis?

Die Frauenkirche beherbergt sicherlich viele Geheimnisse, von denen manche so geheim sein mögen, dass man nicht einmal von ihnen weiß, geschweige denn davon, was hinter ihnen steckt. Eines ist aber mit Sicherheit gelüftet. Diese Kirche war einmal sehr bunt. Zu sehen ist das noch an der Decke im Chorraum, die strahlend blau ist. Rechts und links vom Altar befinden sich hölzerne Klappsitze, das Chorgestühl. Dahinter Schrankwände. Ein einziger davon enthält das sichtbare Geheimnis der Esslinger Frauenkirche. Wird es geöffnet – was natürlich nur Beauftragte der Kirche dürfen –, sieht man ein uraltes Gemälde. Hier wird der Tod des heiligen Alexius dargestellt. Die Geschichte von Alexius ist tragisch und hat Hollywoodformat. In der Kürze sei hier nur erwähnt, dass er zielgenau in das Märtyrernarrativ der christlichen Kirchen passt.

Was sieht man im und vom Turm?

Der Zugang zum Turm ist in der Regel nicht geöffnet. Der Weg ist eng, doch je höher man kommt, umso erstaunlicher wird der Ausblick. Obwohl es nur ein Turm ist, erscheinen das Gebäude und die Rundwege um die Türme verwinkelt. Ganz weit oben, wo kaum noch ein Mensch hinkommt, flattert eine Taube dicht an meinem Gesicht vorbei. Zum Glück sehe ich ihre Eier früh genug – sie liegen mitten auf der knarrenden Holztreppe. Der weite Blick und das Gefühl, die vielen Figuren, auch den Teufel, plötzlich vor der Nase zu haben, sind erhebend.

Wie ist die Umgebung?

Die Frauenkirche liegt am Rande der Altstadt. Vom Zentrum, dem Marktplatz und dem Rathausplatz, sind es nur wenige Gehminuten. Der Weg für Fußgänger führt unter dem autobefahrenen Altstadtring durch. In der Umgebung liegen zahlreiche Cafés, Restaurants und auch eine Weinstube der Esslinger Weingärtner, die sich inzwischen Teamwerk nennen. Kessler, die älteste Sektkellerei Deutschlands, befindet sich ebenfalls in unmittelbarer Nähe.

Unterwegs in der Region

Serie
Auf Erkundungstour in der Region – zu geheimnisvollen Burgen und Ruinen, prächtigen Schlössern und eindrucksvollen Kirchen. Wir machen uns in und um Stuttgart auf die Suche nach Schlossgespenstern, erzählen spannende Geschichten aus vergangenen Tagen und liefern Wissenswertes zu mächtigen Mauern in luftigen Höhen. Unsere Sommerserie widmet sich diesen kulturellen und historischen Sehenswürdigkeiten und bietet Anregungen für Ausflüge, die sich lohnen. Wetten, dass auch für Sie etwas dabei ist?

Anreise
Die Kirche liegt am Rande des Altstadtzentrums, weit sichtbar von vielen Orten der Stadt. Das Zentrum der Altstadt – Marktplatz und Rathausplatz – sind nur wenige Gehminuten entfernt. Nächstes Parkhaus ist das am Marktplatz.

Spaziergang Lohnenswert ist ein Spaziergang durch die Esslinger Altstadt mit ihren schönen Plätzen und geheimnisvollen Gassen. Von der Kirche geht es außerdem in die Wengerte hinein, wo der Weg zunächst einmal nach oben führt. Bereits unterwegs bekommen Spaziergänger herrliche Ausblicke auf das Neckartal mit der eigenartigen Verbindung aus Industrie und Naturschönheit.