Kornwestheim Zwischen den Gleisen des Kornwestheimer Rangierbahnhofs entsteht neuer Lebensraum für bedrohte Tierarten und seltene Pflanzen. Von Gaby Mayer-Grum

Kornwestheim Zwischen den Gleisen des Kornwestheimer Rangierbahnhofs entsteht neuer Lebensraum für bedrohte Tierarten und seltene Pflanzen. Von Gaby Mayer-Grum

Früh am Morgen habe er sie gesehen, erzählt Hubert Laufer mit leuchtenden Augen. Auf einem Stein, der angenehm warm, aber noch nicht zu heiß gewesen sein muss, habe sie sich die Sonne auf die in Brauntönen schimmernde Haut scheinen lassen. Nachdem sie die richtige "Betriebstemperatur" erreicht hatte, machte sich die scheue Dame allerdings davon. Vielleicht auf die Suche nach leckeren Frühstücksinsekten und später zu einem Schläfchen im kühlen Schatten der Sträucher. Jetzt, um die Mittagszeit, lässt die Zauneidechse nicht einmal mehr die Spitze ihres Schwanzes sehen - viel zu heiß ist es dem wechselwarmen Tier in der Sonne geworden.

 

Die Hitze liegt flirrend über den rotbraunen Schienen, die überquert werden müssen auf dem Weg zu dem riesigen Biotop zwischen den Gleisanlagen. Wer hinüber will, streift nicht nur eine weithin leuchtende Warnweste über, sondern braucht auch Begleitung von einem Sicherheitsmann der Deutschen Bahn. Schließlich befindet sich das Biotop mitten auf dem Gelände des Rangierbahnhofs, auf einer mittlerweile stillgelegten Fläche.

Hier hat das Stuttgarter Landschaftsplanungsbüro glu - das Kürzel steht für Grün, Landschaft und Umwelt - mit Unterstützung von Experten ein kleines Naturparadies geschaffen: Hans Schwenninger ist Fachmann für Wildbienen und andere Insekten, Hubert Laufer für Eidechsen und Vögel. Gemeinsam mit Ruby Mollenhauer von glu betreuen sie die Ausgleichsfläche (siehe Info-Kasten), die zum Lebensraum bedrohter Tierarten und seltener Pflanzen werden soll. Regelmäßig sind sie vor Ort, um das Biotop sprichwörtlich unter die Lupe zu nehmen und Pflegemaßnahmen zu überwachen. Dabei werden solche Pflanzen entfernt, die überhand zu nehmen und andere, für die Tiere wichtige Blumen und Kräuter zu verdrängen drohen. Die Fachleute schauen aber vor allem darauf: Sind die Arten, denen man ein Zuhause bieten will, schon eingewandert? Und fühlen sie sich zwischen grünen Hecken und trockenem Gehölz, Steinriegel und Sandkuhlen, wogenden Blumenfeldern und Gras auch wohl?

Bislang, bilanzieren die beiden Ökologen Schwenninger und Laufer, entwickelt sich die Fläche prächtig. Und sie scheint den Tieren, die sich ansiedeln sollen, zu gefallen. Dabei ist es mitunter höchst kompliziert, ihre Wünsche zu erfüllen. Allein die Spitzfühler-Mauerbiene, ein kleines Insekt mit großen Ansprüchen: Die Wildbiene erweist sich bei der Wahl ihres Lebensraums als absolut kompromisslos. Die mit spitzen Fühlerenden ausgestattete winzige schwarze Biene zieht ihren Nachwuchs nämlich ausschließlich im Inneren von dürrem Brombeerranken heran. "Sie nagt das Mark heraus und legt im Inneren des Zweigs Brutzellen an", erklärt Hans Schwenninger.

Weil die Wildbiene bei der Haussuche so wählerisch ist und sich ihr Lebensraum in den vergangenen Jahren drastisch reduziert hat - wo findet sich schon ausreichend trockenes Gestrüpp, das laut dem Bienen-Experten Hans Schwenninger erst dann als Nistplatz geeignet ist, wenn es mindestens drei Jahre sich selbst überlassen wurde? -, gibt es nur noch wenige Spitzfühler-Mauerbienen. Von lediglich sechs Populationen in ganz Baden-Württemberg spricht der Fachmann, der in Stuttgart ein Büro betreibt.

Fast ebenso schwer hat es die Natternkopf-Mauerbiene, die sich zwar mit ihren Brutplätzen nicht ganz so sehr einschränkt - sie nistet in löchrigem Gestein -, aber als ausgesprochen schleckig gilt. Auf dem Speiseplan dieser Wildbienenart steht ausschließlich der Pollen des Gewöhnlichen Natternkopfs. Und genau diese hellblau blühenden Blumen haben die Experten auf dem ehemaligen Bahngelände durch die Pflege gefördert.

In der Bienenwelt muss sich das herumgesprochen haben: Die Matte Natternkopf-Mauerbiene ist inzwischen heimisch in Kornwestheim. "Sehen Sie, da!", ruft Hans Schwenninger, dem ein einziger Blick genügt, um die Art zu identifizieren, der so ein kleines Flügeltier angehört. Ein Schwung mit seinem weißen Netz, ein weiterer, um das Netz zu verschließen - und eine scheue Vertreterin der Natternkopf-Mauerbiene ist vorübergehend dingfest gemacht. Außer ihr fühlen sich auf dem Areal bereits etwa 60 Bienenarten zuhause, hat Hans Schwenninger bei seinen Exkursionen gezählt und dokumentiert. Davon stünden alleine elf auf der Roten Liste bedrohter Arten. Mittlerweile, ist der Experte überzeugt, ist das Vorkommen bedrohter Wildbienenarten auf dem Areal einzigartig in der Stadt - und wohl darüber hinaus.

Wo sich so viele Insekten tummeln und wo gezielt Blumen und Kräuter gesät werden, die ihnen schmecken, da fühlen sich auch andere Tiere wohl. Zahllose Hummeln und Schmetterlinge summen und flattern über dem Biotop. In den Hecken zwitschern Dorngrasmücken, Vögel, die ebenfalls als gefährdet gelten und die angesichts des Insektenangebots immer reichlich zu futtern haben. Die Dorngrasmücke brütet besonders gerne im Brombeergeäst - eben dort, wo auch die Wildbienen leben. "So erzielen wir schöne Synergieeffekte", freut sich Hubert Laufer.

Der Vogel- und Eidechsenexperte hat beim Rundgang über das Areal besonders ein Auge auf die acht Flächen, die eigens für die Zauneidechse angelegt wurden, die sogenannten Steinriegel. Die halbrunden grob geschotterten Kuhlen sind für die Reptilien ideal. In rund 30 Zentimeter tiefem Flusssand legen sie ihre Eier ab, sie selbst können sich vor dem kalten Winter bis zu einen Meter in die Tiefe verkriechen, um dort zu überwintern, wo ihnen Frost nichts anhaben kann. In den Sommermonaten laden flache Steine und Totholz zum Sonnenbad ein - und mit ein bisschen Glück können sie dabei morgens, wenn es nicht zu heiß ist, beobachtet werden.

Wie an diesem Tag, in den noch kühleren Morgenstunden. Für Hubert Laufer ist es eine Bestätigung seiner Arbeit, dass er die Eidechse entdeckt hat. Das Biotop funktioniert - und für die Zauneidechse ist trotz des geplanten Ausbaus des Containerdepots in ihrem einstigen Lebensraum der Zug noch nicht abgefahren.