Alles, was er anpackte, revolutionierte er: Vor zweihundert Jahren wurde der Schriftsteller Georg Büchner geboren. Obwohl ihm auf Erden nicht viel Zeit blieb, sprengte der Dichter des „Woyzeck“ mit seinem Gesamtwerk die Tradition in die Luft.

Stuttgart - Sein Werk ist schmal. Es passt in jede Jackentasche und umfasst doch die ganze Welt: „Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, schreibt Georg Büchner im „Woyzeck“. Und was er dem Titelhelden seines berühmtesten Dramas in den Mund legt, gilt auch für die Gesellschaft, durch die der Soldat Woyzeck als geschundene Kreatur gehetzt wird: Auch die menschliche Sozietät erweist sich als Abgrund, als Abgrund unermesslicher Leiden und Leidenschaften, Demütigungen, Schikanen und Nöte. Büchner hat seinen Blick von diesen sozialen und anthropologischen Schrecknissen nicht abgewandt und dabei mehr Schwindelerregendes gesehen, als ein Augenpaar ertragen kann. Er starb am 19. Februar 1837 in Zürich. Die Ärzte sagen: an Typhus. Wir sagen: an Hellsicht. Mit dreiundzwanzig Jahren endete das Leben eines Genies, das dazu bestimmt war, seiner Zeit mit Riesenschritten vorauszueilen.

 

Geboren wurde Georg Büchner vor zweihundert Jahren, am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt. Wie sein Vater wollte auch er Arzt werden und studierte ab 1833 in Gießen, ab 1835 in Straßburg Medizin und Philosophie. Seinen Studienplatz wechselte er nicht freiwillig. Nachdem er mit dem protestantischen Theologen Ludwig Weidig die „Gesellschaft der Menschenrechte“ gegründet hatte, ein Sammelbecken für politisch fortschrittliche Kräfte, verfassten die beiden Aktivisten 1834 auch den mit Bibelzitaten aufgewuchteten „Hessischen Landboten“, jene aufrührerische Flugschrift, deren griffiges Motto auch heute noch Straßenkämpfer inspiriert. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ lautete die Parole, die dem rückblickend als erstes „Kommunistisches Manifest“ titulierten Text vorangestellt war. Büchner wurde daraufhin steckbrieflich gesucht und floh aus dem reaktionären Metternich-Deutschland ins liberale Straßburg, wo er seine Studien fortsetzen konnte. Er war damals einundzwanzig – und die Rastlosigkeit, die sein junges Leben als Umstürzler prägte, schlug sich nicht minder im rastlosen Eifer nieder, mit der er als hellwacher Schriftsteller arbeitete, auch später noch in der Züricher Emigration.

Handlicher Umfang, unfassbarer Inhalt

Sein Lebenswerk schuf Büchner zwischen 1834 und 1836. Von wissenschaftlichen Abhandlungen und Privatbriefen abgesehen, umfasst es die Kampfschrift des „Hessischen Landboten“, die Novelle „Lenz“ sowie die Dramen „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ und „Woyzeck“ – doch so handlich fassbar sich das Œuvre in seinem Umfang darstellt, so unfassbar mutet doch der Inhalt an, den der Medizinstudent darin verpackt hat. Tagsüber hantierte er zu Studienzwecken mit dem Seziermesser, abends mit der Schreibfeder, doch auch diese Feder nutzte er wie ein Skalpell. Messerscharf zerlegte er die tradierten Literaturgenres und setzte sie neu zusammen. Alles, was er in den zwei Jahren seiner kurzen Schaffenszeit als Dichter anpackte, revolutionierte er auch.

Am stärksten klingt das ganz Unerhörte heute noch im „Lenz“ nach, dieser vielleicht geheimnisvollsten und verstörendsten Novelle der deutschen Literaturgeschichte überhaupt. Auf einer wahren Begebenheit fußend, handelt die Prosa vom Dichter Jacob Michael Reinhold Lenz, der sich im Winter 1778 bei Pfarrer Oberlin in den Vogesen aufgehalten hatte. Lenz hoffte auf eine Besserung seines zerrütteten Gemütszustands. Mit zerborstenen Sätzen, aufjagenden Bildern und eindringlichen Momentaufnahmen beschreibt Büchner nun nicht nur das Leiden seines Kollegen, nein, mehr noch: er leidet als Erzähler auch mit, spürbar, schmerzhaft, intensiv. Indem er Außen- und Innensicht radikal miteinander verschränkt, stellt er eine Empathie her, die bei allem Mitgefühl doch völlig unsentimental bleibt – und sich obendrein umstandslos auf den Leser überträgt. Ein Humankunststück, dessen Virtuosität sich schon zu Erzählbeginn offenbart.

Verzweifelt schöne Auslöschung

„Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg“, heißt der erste Satz, und die Nüchternheit von Datum und Ort brennt sich dem Gedächtnis ein, weil sie ein Gegengewicht zu den stürmischen Einbildungen setzt, denen der Gott- und Menschensucher Lenz wie einer Naturgewalt ausgesetzt ist. An diesem 20. Jänner lag dem Wanderer „nichts am Weg, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“. Dieser Mensch ist krank, krank an der Seele, und als er herausfindet, dass Gott tot ist, bricht er seine Suche ab. Er, dem „sein Dasein eine notwendige Last war“, kommt mit einer „entsetzlichen Leere“ in Straßburg an. Und schlicht wie der erste Satz dieser Jahrhundertprosa ist auch der letzte: „So lebte er dahin“, der Dichter Lenz, wie eine Maschine, mit vollkommen gebrochenem Willen. Büchners Novelle von der Auslöschung eines Menschen ist zum Verzweifeln schön. Und sie gehört zu jener raren Sorte Literatur, die den Leser verändert: Versunken folgt man dem Zauber der Sätze, bis man den Blick von der Seite hebt und die Welt hinterm Fenster mit neuen Augen sieht.

Sinnlosigkeit und Entfremdung sind die Themen im „Lenz“. In Variationen tauchen diese sehr modernen Erfahrungen und Empfindungen auch in den drei Bühnenstücken auf, die Büchner hinterlassen hat. Was sich in der Komödie von „Leonce und Lena“ noch als existenzielle Langeweile äußert, verhärtet sich im Politdrama von „Dantons Tod“ zu bitterem Zynismus und schlägt in der Sozialtragödie des „Woyzeck“ schließlich in kreatürlichen Schmerz um. Und wie in der „Lenz“-Novelle, bei deren Niederschrift sich Büchner auf die Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin stützt, greift er auch in den beiden letztgenannten Dramen auf historische Dokumente zurück, auf die Reden der französischen Revolutionäre in „Dantons Tod“ und auf die Gutachten der Gerichtsmediziner in „Woyzeck“. Büchner recherchiert, montiert und collagiert das vorgefundene Material, wie es in dieser Kon- sequenz noch kein Dramatiker zuvor getan hat. Zudem setzt er Reales und Fiktives atmosphärisch derart stimmig ineinander, dass man die Fugen nicht sieht. Wenn man so will, hat dieser Dichter das Dokudrama des 21. Jahrhunderts vorweggenommen.

Er hält weiterhin in Atem

Das gilt vor allem für „Dantons Tod“, das einzige noch zu Lebzeiten des Autors erschienene, perfekt gebaute und rhetorisch glänzende Werk. Aber es ist ja nicht nur die Form, die wir bei Büchner bewundern, es ist auch der Inhalt. „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“, fragt der von der Revolution enttäuschte Danton, der wie Woyzeck in den Abgrund des Menschen geschaut hat. Danton aber ist sprachmächtig und fasst seine Verzweiflung in Worte, während Woyzeck, der von Wahnvorstellungen verfolgte Kleinstadt-Außenseiter, sprach- und hilflos ist. Vom Hauptmann malträtiert, vom Doktor für medizinische Experimente missbraucht, vom Tambourmajor bloßgestellt und von der Geliebten betrogen, ist er unter den Geringsten der Geringste. Vor Büchner hat niemand so eine Elendsfigur in derart fragmentierten Kurzszenen auf die Bühne gebracht, nach Büchner schon: „Woyzeck“ , sein letztes, nur in mehreren Handschriften hinterlassenes Stück, hat Epoche gemacht, nicht nur als Schullektüre. „Woyzeck“ ist der mit genialischer Hast entfesselte Urknall der modernen Dramatik.

„Er hatte ja auch keine Zeit“, schreibt der Theaterkritiker Alfred Polgar über diesen „Jüngling-Dichter, dem schon das Abrakadabra moderner Theatermagie auf den Lippen war, als der Tod sie eilig schloss (wie um einen Vorlauten am Ausplaudern noch nicht reifer Geheimnisse zu hindern)“ – und natürlich hätten wir dem viel zu früh verstorbenen Jüngling-Dichter heute gerne noch ein paar dieser Geheimnisse entlockt. Wie bloß gelang es ihm, politische Aktion mit literarisch-philosophischer Reflexion zu verbinden, ohne sich selbst dabei lähmend in die Quere zu kommen? Und woher stammt der enorme Überschuss an Energie, der ihn und sein singuläres Werk mühelos ins 21. Jahrhundert katapultiert? Mit Büchner sind wir noch lange nicht fertig. Er hält uns weiterhin in Atem.